Arnd Küppers und Peter Schallenberg | Juni 2021

Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik

Zum hundertsten Todesjahr von Franz Hitze

Franz Hitze ist unverkennbar der Repräsentant einer lange vergangenen Epoche. Einen wie ihn könnte man sich in unserer heutigen Welt nur schwer vorstellen. Er war Priester und nach allen Zeugnissen von Zeitgenossen und Weggefährten ein tiefgläubiger Mensch. Als er am 20. Juli 1921 starb, beschrieb sein Paderborner Heimatbischof Caspar Klein ihn an seinem Grab als einen „Mann voll der tiefsten Frömmigkeit“ und als „Priester, der aus dem lebendigen Verkehr mit Gott die Kraft schöpfte, sich ganz in den Dienst der christlichen Nächstenliebe zu stellen.“[1]

Allerdings war Hitze zu keinem Zeitpunkt dort tätig, wo wir uns einen solchen frommen und den Menschen zugewandten Mann heutzutage vorstellen würden: in der Seelsorge. In einer Pfarrgemeinde hat er niemals gearbeitet. Stattdessen war er Verbandsfunktionär und vor allem Politiker: Er war einer der Mitinitiatoren des Volksvereins für das katholische Deutschland, und 37 Jahre lang, von 1884 bis zu seinem Tod, gehörte er dem Deutschen Reichstag an, wo er schnell zu dem profiliertesten Sozialexperten seiner Zentrumsfraktion avancierte. In dieser Eigenschaft hat er maßgeblich den Beginn der deutschen Sozial- und Arbeitspolitik und die Anfänge einer Idee von Sozialer Marktwirtschaft mitgeprägt. Hitze ist damit eine der herausragenden Figuren jenes sozialen und politischen Katholizismus, der die Geschicke Deutschlands für gut einhundert Jahre – von der Mitte des 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – maßgeblich mitbestimmt hat.

Gepackt von der Sozialen Frage

Franz Hitze wurde am 16. März 1851 als viertes Kind einer wohlhabenden Landwirtsfamilie in dem kleinen Ort Hanemicke bei Olpe im Sauerland geboren. Er gehörte, wie der Historiker Rudolf Morsey es ausdrückt, zur „ländlichen Bildungsreserve des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert“[2]. Bereits als Gymnasiast am Theodorianum in Paderborn war er politisch sehr interessiert. Er las regelmäßig die Historisch-politischen Blätter und besorgte sich auch alle älteren Jahrgänge dieser von Joseph Görres (1776-1848) 1838 gegründeten Zeitschrift, die lange Jahre die publizistische Speerspitze des politischen Katholizismus in Deutschland bildete.[3]

Obwohl Hitze von seiner Herkunft her keinerlei direkte Berührungspunkte mit der Arbeiterfrage hatte, begann er früh, sich auch speziell mit diesem Thema zu beschäftigen. Er studierte die Reden und Schriften des Mainzer Arbeiterbischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), später kam die regelmäßige Lektüre der 1868 ins Leben gerufenen Christlich-socialen Blätter hinzu, des Zentralorgans der katholischen Arbeitervereine.

Das Thema der Sozialen Frage ließ Hitze nicht mehr los, auch nicht, als er nach seinem Abitur 1872 in Würzburg mit dem Studium der Theologie begann. Das war ungewöhnlich für einen jungen Priesterkandidaten, zumal in diesen Jahren des beginnenden Kulturkampfes, in dem der politische Katholizismus sein Augenmerk verständlicherweise nahezu exklusiv auf das Staat-Kirche-Verhältnis richtete und seine ganze Kraft darauf konzentrierte, die Unabhängigkeit der Kirche und ihrer Einrichtungen zu verteidigen. Hitze hingegen folgte unbeirrt seinen speziellen Interessen und publizierte bereits kurz nach dem Abschluss seines Theologiestudiums ein erstes Buch mit dem Titel „Die sociale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung“. Obwohl der junge Autor sein Thema nach wie vor nicht aus eigener Anschauung, sondern weitgehend aus theoretischem Selbststudium beleuchtete, fand das Buch positive Aufnahme in den katholischen Zeitungen und Zeitschriften.

Auch als sein Bischof Konrad Martin, der selbst schwer im preußischen Kulturkampf litt, ihn 1878 kurz nach der Priesterweihe zum Weiterstudium am Campo Santo Teutonico nach Rom sandte, widmete er sich weniger der für ihn vorgesehenen Kirchengeschichte als vielmehr den Sozialwissenschaften, insbesondere den Theorien von Karl Marx, dessen herausragende Bedeutung er früh erkannte. Sein 1880 veröffentlichtes voluminöses Buch „Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft“ ist in weiten Teilen eine Auseinandersetzung mit der Marx’schen Theorie einerseits und dem Liberalismus andererseits. Ihnen stellte Hitze ein christliches Modell einer organischen Sozialordnung entgegen.

Utopie einer ständischen Reorganisation

Wie auch andere katholische Sozialdenker dieser Zeit, allen voran der in Wien lebende Publizist Karl Freiherr von Vogelsang (1818-1890), entlehnte Hitze sein Gesellschaftsmodell einem idealisierten Bild der vormodernen Ständeordnung. Die Quintessenz seines Konzepts fasste er – in äquidistanter Abgrenzung zu Liberalismus und Marxismus – mit folgenden Worten zusammen: „Wir wollen ‚socialistische‘ Bindung der gesellschaftlichen Kräfte, gegenüber der gesellschaftlichen Auflösung des ‚Liberalismus‘. Wir wollen ständische ‚Gliederung‘ der Gesellschaft, gegenüber der Unterschiedslosigkeit des socialistischen Volksstaates. Wir wollen ‚ständische Freiheit und Gleichheit‘, sowohl rechtlich, gegenüber ‚junkerlichen Reactionsbestrebungen‘, als auch factisch, gegenüber dem Lohnsklaventhum des liberalen Kapitalismus. Wir wollen endlich ‚die persönliche Freiheit‘, nicht blos rechtlich, sondern auch factisch, nicht blos die politische Freiheit des Liberalismus und Demokratismus, auch nicht blos die materielle des Socialismus, sondern die politische, sociale und materielle, aber nur in und mit dem Stande, nur soweit, als der gesellschaftliche Bestand es zuläßt.“[4]

Hitzes Vorstellungen von einer „socialistischen Organisation der Stände“[5] hatte außer dem Begriff freilich nichts mit dem marxistischen Konzept des Sozialismus gemein. Ihm schwebte vielmehr eine Reorganisation der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft nach dem Vorbild des mittelalterlichen Zunftwesens vor. In den industriellen Berufsständen sollten die Interessen von Kapital und Arbeit in einen harmonischen Ausgleich gebracht werden. „Solche zünftige Organisationen aller unserer Stände: das erscheint uns als das Ziel der Zukunft, als der einzige Weg, die Uebermacht des Kapitals und der Maschine zu brechen, die Fortschritte der Production für das Ganze dienstbar zu machen.“[6]

Hitzes Ideen für eine ständische Reorganisation der Industriegesellschaft waren nicht besonders originell. Sie waren vielmehr im Katholizismus des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Das resultierte zum einen aus diversen Verbindungen zwischen dem Katholizismus und der politischen Romantik mit ihrem organischen Verständnis von Staat und Gesellschaft. Zum anderen existierte eine Kontinuität zu dem vormodernen Ordo-Denken der scholastischen Theologie des Mittelalters, die im 19. Jahrhundert mit der Neuscholastik eine Wiederbelebung erfuhr.

Die aus diesen Quellen gespeisten katholischen Sozialtheorien führten zunächst einmal zu wenig mehr als einem Generalverdacht gegenüber der Moderne mit ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen. Der Blick auf die Gesellschaft als organischer Gesamtzusammenhang ließ die Vertreter dieser Denkrichtungen allerdings früher als die meisten ihrer Zeitgenossen das Wesen und die eigentliche Herausforderung der Arbeiterfrage erkennen.

Der Kern der Sozialen Frage

Die moderne Soziale Frage bestand in ihrem Kern nicht darin, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in der neu entstehenden Fabrikindustrie elende Arbeits- und Lebensbedingungen hatten. Armut breiter Bevölkerungskreise war vielmehr ein Charakteristikum auch der vorindustriellen Neuzeit und insofern für die Menschen im 19. Jahrhundert gar kein neues Phänomen. Vielmehr war seit spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts das Massenelend Normalität in Deutschland; die Sozialgeschichte spricht vom Zeitalter des Pauperismus.[7]

Im Zuge der kapitalistischen Umformung der Wirtschaft und der Industrialisierung entfaltete die Moderne allerdings eine zuvor nie dagewesene soziale Dynamik. Es wurden ungeahnte Produktivkräfte freigesetzt und ein zuvor undenkbarer Wohlstand erwirtschaftet. Getragen wurde diese Entwicklung von dem städtischen Bürgertum, das nicht nur rasant an Reichtum, sondern auch an gesellschaftlichem und politischem Einfluss gewann. Weitgehend abgekoppelt von diesen positiven Entwicklungen waren allerdings diejenigen, die mit ihrer Arbeitskraft einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisteten, diesen Wohlstand zu erwirtschaften: die Arbeiterinnen und Arbeiter in der sich rasant entwickelnden Industrie. Sie bildeten das Proletariat, eine neue und schnell wachsende Bevölkerungsgruppe, die zum großen Teil aus Menschen bestand, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die rasch größer werdenden Städte zogen. Diese Menschen wurden aus ihren herkömmlichen sozialen Bindungen herausgerissen, fanden in der sich entfaltenden bürgerlichen Welt allerdings keinen neuen sozialen Status, sondern führten lediglich eine prekäre Existenz.

Der Kern der modernen Sozialen Frage war deshalb nicht die Armut der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern deren wirtschaftliche, politische und kulturelle Ausgrenzung von der saturierten Stellung und immer komfortableren Situation des Bürgertums. Dieser Kontrast und die damit verbundene gesellschaftliche Spannung waren in den neuen Industriestädten mit Händen zu greifen, wenn man nur ein paar Straßen von den Fabrikbezirken der Arbeiterfamilien bis zu den bürgerlichen Wohnquartieren zurücklegte. Der Kern der Arbeiterfrage war also der zunehmende Zerfall der Gesellschaft in zwei antagonistische Klassen, die nicht nur gegenläufige wirtschaftliche Interessen hatten, sondern in völlig unterschiedlichen Lebenswelten existierten.

Wer, wie die katholischen Romantiker oder Neuscholastiker, ein Gesellschaftsideal harmonisch geordneter Ganzheitlichkeit vertrat, musste diese Entwicklung mit Grausen betrachten. Hinzu kommt, dass der deutsche Katholizismus in seiner von weiten Teilen der Umwelt angefeindeten Minderheitenposition im 19. Jahrhundert einen starken inneren Zusammenhalt entwickelte, in dem die konfessionelle Gemeinschaft mehr wog als gesellschaftliche Unterschiede. Es entstand das katholische Milieu; Thomas Nipperdey spricht in dem Zusammenhang von einer regelrechten „katholischen ‚Subkultur‘ von unerhörter Dichte und Intensität“[8]. Das Zentrum war deshalb auch die erste deutsche Volkspartei, die nicht nur von einer bestimmten Klientel, sondern von Katholiken aller sozialen Schichten gewählt wurde, auch von weiten Teilen der katholischen Arbeiterschaft. Es erscheint daher plausibel, dass man in diesem katholischen Milieu besonders sensibel dafür war, die eigentliche Herausforderung der Arbeiterfrage zu erkennen, und dass man intuitiv wahrnahm, dass eine Lösung nur darin bestehen konnte, die soziale Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, die Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren und so den sozialen Frieden wiederherzustellen.

Realitätsferne Utopien einer Restitution der überkommenen Ständegesellschaft waren allerdings noch kein praktisch umsetzbares politisches Programm zur Erreichung dieses Zieles – im Gegenteil waren sie dafür sogar eher hinderlich. Das hatte dem jungen Publizisten Hitze auch der politisch erfahrene Georg von Hertling (1843-1919) in einer scharfen Kritik von dessen Buch „Kapital und Arbeit“ ins Stammbuch geschrieben, die in der Bemerkung gipfelte, dass „Hitzes Ablehnung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und seine Forderung einer völligen Reorganisation derselben zu einem politischen Quietismus erziehe, dem bei aller Erwartung der kommenden Dinge die Verantwortung für die Notwendigkeiten des Tages verlorengehe.“[9] Was Hitze anfangs offensichtlich noch fehlte war, wie Hubert Mockenhaupt zutreffend feststellt, „vor allem der anregende und persönliche Kontakt mit Sozialwissenschaftlern und Sozialpolitikern. Auch besaß er noch keinen unmittelbaren Zugang zur Arbeiterbewegung.“[10] Das allerdings sollte sich bald ändern.

Generalsekretär des Vereins Arbeiterwohl

Franz Brandts (1834-1914), ein katholischer Textilunternehmer aus Mönchengladbach, war durch dessen Publikationen auf Hitze aufmerksam geworden. Brandts selbst trieb die Soziale Frage um. Er war allerdings kein Theoretiker, sondern ein Mann der Praxis, der nach konkreten Instrumenten suchte, um den Arbeits- und Lebensalltag seiner Arbeiterinnen und Arbeiter zu erleichtern. So richtete er, als er seine eigene Weberei eröffnete, eine Betriebskrankenkasse ein, die sich je zur Hälfte aus den Beiträgen sowie einem Zuschuss von Brandts finanzierte.[11] Die Überschüsse der Krankenkasse verzinste der Fabrikherr.

Obwohl er zweifellos ein Patriarch war und ausgeprägt paternalistische Vorstellungen hegte, war Brandts doch offen für ein gewisses Maß an Mitverantwortung und Mitbestimmung seiner Belegschaft. Die Betriebskrankenkasse verwaltete er gemeinsam mit durch die Belegschaft gewählten Vertretern. Später stimmte er der Einrichtung eines Arbeiterausschusses zu, eine Art Vertrauensgremium der Belegschaft, das Anliegen der Arbeiterinnen und Arbeiter gegenüber dem Fabrikanten vortrug und vertrat. Brandts errichtete außerdem eine betriebliche Sparkasse, eine Vorschuss- und Unterstützungskasse, einen Konsumverein, eine Kantine, die günstiges Mittagessen anbot, und sogar einen betrieblichen Kindergarten, den nicht nur die Kinder der Arbeiterfamilien, sondern auch seine eigenen Kinder besuchten.

Untergebracht waren diese betrieblichen Wohlfahrtseinrichtungen in einem eigens dafür errichteten Gebäude, dem Sankt-Josefshaus, in dem Brandts auch eine Bibliothek für seine Arbeiterinnen und Arbeiter einrichten ließ, in dem der Gesangs- und Instrumentalverein der Belegschaft proben konnte und auch andere gesellige Veranstaltungen stattfanden.[12] Dieses soziale Engagement machte Brandts bald überregional bekannt, die Christlich-socialen Blätter rühmten ihn als herausragendes Beispiel eines sozial verantwortungsvollen Unternehmers und Arbeitgebers. Als sich im Frühjahr 1880 ein Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, kurz: Arbeiterwohl, gründete, war Brandts einer der Initiatoren. Er wurde zum Vorsitzenden gewählt und der Verbandssitz nach Mönchengladbach gelegt.

Weil Brandts sich allerdings nicht imstande sah, die tägliche Verwaltungsarbeit des Verbandes zusätzlich zu seiner unternehmerischen Arbeit zu leisten, richtete er die Position eines Generalsekretärs ein, und diesen Posten bot er Franz Hitze an, der mit Begeisterung zusagte. Bei Brandts sammelte Hitze in Windeseile die praktischen Erfahrungen, die ihm bislang gefehlt hatten.

Vom Utopisten zum pragmatischen Sozialreformer

In seiner weiteren Entwicklung kam es Hitze zweifellos zugute, dass sich nicht nur der Verband Arbeiterwohl, sondern auch seine Wohnung im Sankt-Josefshaus befand. Das heißt, Hitze lebte und arbeitete fortan inmitten der Arbeiterinnen und Arbeiter. Unter diesen Gegebenheiten vollzog sich Hitzes „Wandlung vom idealisierenden Schriftsteller zum realistischen Praktiker“[13], so sein Biograf. „Die Brandtsche Fabrik war gleichsam das sozialpolitische Seminar für Franz Hitze.“[14] Denn hier kümmerte er sich nicht nur um die Verbandsarbeit, zu der insbesondere die Redaktion der Verbandszeitschrift mit dem gleichnamigen Titel Arbeiterwohl gehörte, sondern er nahm auch Aufgaben in der Verwaltung der Brandt’schen Wohlfahrtseinrichtungen wahr und nahm an den Sitzungen des Arbeiterausschusses teil.

In einem kurz vor seinem Tod verfassten Text, von ihm selbst als „Nachwort“ zu seinem Buch „Kapital und Arbeit“ tituliert, erinnert er sich an eine „Wandlung der Anschauungen“, die mit seinem Eintritt als Generalsekretär beim Verband Arbeiterwohl verknüpft gewesen sei. „Hier lebte ich mitten unter den Fabrikarbeitern, arbeitete in Krankenkasse und Arbeiterausschuß mit ihnen, verkehrte in ihren Familien, empfand Freud und Leid mit ihnen; ich schaute mit eigenen Augen das vielfache Elend, die Härten und Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse; lernte auch die edlen Eigenschaften neben manchen Schwächen und moralischen Gebrechen, ja den Heroismus der Tugend in so manchen Familien kennen. Und vor allem wurde mir klar, daß nicht so sehr Schuld und Bosheit der Arbeiter, als vielmehr die Verhältnisse und die Sünden und Unterlassungen der besitzenden und regierenden Klasse die Ursache der vielfachen wirtschaftlichen und sittlichen Verwahrlosung und weiterhin auch der Verbitterung und revolutionären Gesinnung bildeten.“[15]

Diese Erfahrungen führten, so bekennt Hitze, zu nicht weniger, als dass er „eine neue Lebensauffassung und ein neues Lebensprogramm [begann] mit dem Ziel: alle Kräfte einzusetzen, um durch eine großzügige Sozialreform, durch eine systematische Erziehungsarbeit und Selbstschulung diese ‚Massen‘ wirtschaftlich, sittlich und geistig so zu heben, daß sie für eine verantwortliche Mitarbeit in Staat und Gesellschaft reif würden.“[16]

Das soziale Ziel Hitzes bestand also nicht bloß darin, die materielle Not der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer Familien zu lindern, sondern deren soziale Ausgrenzung aus dem bürgerlichen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt zu überwinden. Es ging ihm, in heutiger Terminologie ausgedrückt, um Beteiligungsgerechtigkeit und Partizipation der Arbeiterschaft in allen sozialen Lebensbereichen. Aus Proletariern sollten Erwerbsbürger werden. Und nicht zuletzt sollte dadurch die Spaltung der Gesellschaft zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Arm und Reich überwunden und der gesellschaftliche Frieden wiederhergestellt werden.

Der Volksverein: „Empowerment“ der katholischen Arbeiterschaft

Interessant und aufschlussreich ist, welche Mittel Hitze zur Erreichung dieses Zieles benennt. Man darf beim Lesen des Zitats nicht über den paternalistischen Begriff der „Erziehungsarbeit“ stolpern und dabei jenen der „Selbstschulung“ übersehen. Dass in Hitzes Texten und Aktionen immer wieder paternalistische Züge herausgearbeitet werden können, kann nicht verwundern. Der Paternalismus war, zumindest jenseits der Sozialdemokratie, seinerzeit noch das Hauptmotiv der Sozialreform. Erstaunlich ist vielmehr, dass er mit dem Gedanken der „Selbstschulung“ einen hochmodernen Ansatz propagiert, der heutzutage mit dem Begriff des „Empowerment“ bezeichnet wird, also Wegen der Emanzipation diskriminierter und marginalisierter Gruppen.

Insofern Arbeiterwohl ein Unternehmerverband war, bildete dieser allerdings nicht den Ort, an dem Hitze seine Ideen vom Empowerment der Arbeiterinnen und Arbeiter wirklich hätte zur Geltung bringen können. Über die Verbandszeitschrift propagierte er zumindest beharrlich das Konzept der Werksgemeinschaft, wie er es in dem Unternehmen von Franz Brandts kennengelernt hatte und das mit dem Arbeiterausschuss und mitverwalteten Einrichtungen wie der Betriebskrankenkasse zumindest Ansätze betrieblicher Mitbestimmung enthielt.

Mit dem 1890 ins Leben gerufenen Volksverein für das katholische Deutschland, der als Sammlungsverein der katholischen Sozialbewegung angelegt war, eröffneten sich allerdings ganz neue Möglichkeiten. Hitze war einer der Initiatoren dieser Gründung und wurde als Schriftführer in dessen Vorstand gewählt. Vorsitzender wurde sein enger Weggefährte Franz Brandts. Bereits im ersten Jahr seines Bestehens gewann der Volksverein 100.000 Mitglieder, auf seinem Höhepunkt, vor dem Ersten Weltkrieg, zählte er über 800.000 Mitglieder. In der Zentralstelle des Volksvereins in Mönchengladbach koordinierten hauptamtliche Referenten die vielfältigen Aktivitäten. Dazu gehörte auch ein pädagogisches Programm, das Hitze im Vorstand verantwortete und maßgeblich inhaltlich konzipierte.

Bereits ab 1892 bot der Volksverein „Praktisch-soziale Kurse“ an, eine zweiwöchige staatsbürgerkundliche und sozialwissenschaftliche Schulung, an der schon im ersten Jahr fast 600 Menschen teilnahmen, in den folgenden Jahren mitunter weit über 1.000. August Pieper (1866-1942), seit 1892 der erste Generalsekretär (ab 1902 Generaldirektor) des Volksvereins, nannte die „Praktisch-sozialen Kurse“ treffend eine „soziale Wander-Volkshochschule“[17]. Im Vorfeld eines solchen Kurses 1898 in Straßburg erstellte Hitze ein Manuskript als Schulungsmaterial, das im darauffolgenden Jahr von dem eigenen Verlag des Volksvereins als Buch herausgegeben wurde. „Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung“ erfuhr zahlreiche Auflagen und wurde zum populären Lehr- und Handbuch für die katholische Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Eines der Ziele der „Praktisch-sozialen Kurse“ war, für die Arbeit des Volksvereins Multiplikatoren und Helfer zu gewinnen. Das gelang mit überwältigendem Erfolg. 1914 zählte der Volksverein rund 15.000 ehrenamtliche Mitarbeiter.

Mit der zunehmenden Entwicklung und dem organisatorischen Ausbau der katholischen Sozialbewegung, nicht zuletzt dem Anwachsen des Volksvereins selbst, und auch der vermehrten Gründung Christlicher Gewerkschaften wuchs auch der Bedarf an Persönlichkeiten, die geeignet waren, Leitungsaufgaben und Sprecherfunktionen in diesen Strukturen wahrzunehmen. Deshalb schuf der Volksverein ein Angebot, das ausdrücklich eine solche „Führerschulung“ zum Ziel hatte. Ab 1901 wurden die „Volkswirtschaftlichen Kurse“ ins Leben gerufen, eine zehnwöchige intensive Schulung, bei der einem Teilnehmerkreis in überschaubarer Größe eine fundierte volkswirtschaftliche und sozialpolitische Ausbildung vermittelt wurde.[18] Nicht wenige Absolventen dieser Kurse gelangten in der Weimarer Republik in hohe Regierungsämter, so dass der Volksverein den Beinamen „Ministerfabrik“ bekam.[19]

Es ist also keineswegs übertrieben, den Volksverein und insbesondere dessen von Hitze initiiertes Schulungsprogramm als erfolgreiches Beispiel von Empowerment zu begreifen. Mockenhaupt hebt hervor, dass Hitze keiner Organisation zeitlebens so verbunden geblieben ist wie dem Volksverein. Das galt auch nach seinem Umzug 1893 von Mönchengladbach nach Münster, wo für ihn eine außerordentliche Professur für Christliche Gesellschaftslehre eingerichtet worden war. Trotzdem „blieb er ganz und gar ein Mann des Volksvereins, der immer zur Stelle war, wenn die ‚Mönchengladbacher‘ ihn brauchten.“[20]

Arbeits- und Sozialpolitik

So groß die Bedeutung auch war, die Hitze der Bildung und dem Empowerment der Arbeiterschaft beimaß, so sehr betonte er doch genauso die Wichtigkeit staatlicher Sozialpolitik im Hinblick auf die Lösung der Sozialen Frage. Schon bald nach dem Beginn seiner Tätigkeit für den Verband Arbeiterwohl bekam er die Gelegenheit, auf diesem Feld aktiv mitzugestalten. Franz Brandts, der auch in der regionalen Zentrumspartei Gewicht und Einfluss besaß, gelang es, Hitze 1882 als Kandidaten für die Wahl zum Preußischen Abgeordnetenhaus und zwei Jahre später auch für die Reichstagswahlen durchzusetzen.[21] In beiden Fällen gewann Hitze das Mandat und konnte es bei folgenden Wahlen halten, im Fall des Reichstags durchgehend bis zu seinem Tod.

Im Reichstag wurde Hitze, wie eingangs erwähnt, schnell zum führenden Sozialpolitiker seiner Fraktion. Das gelang ihm allerdings auch deshalb, weil vor ihm niemand diese Position wirklich ausgefüllt hatte. Die ersten Wahlperioden des Reichstags fielen in die Jahre des Kulturkampfes, und die Zentrumsfraktion unter ihrem Führer Ludwig Windthorst (1812-1891) konzentrierte sich in ihrer parlamentarischen Arbeit mehr oder weniger ausschließlich auf die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen mit der Bismarck-Regierung.

Zwar wird regelmäßig auf den „Antrag Galen“ von 1877 als den Beginn der Sozialpolitik des Zentrums verwiesen. Dieser enthielt durchaus wichtige Forderungen wie ein Verbot der Kinderarbeit oder ein Verbot der Sonntagsarbeit. Aber ein umfassendes Arbeiterschutzprogramm mit konkreten Vorschlägen zur Novellierung der Gewerbeordnung stellte der Antrag nicht dar. Wolfgang Ayaß weist zudem darauf hin, dass die frühen sozialpolitischen Initiativen des Zentrums weniger von einer gründlichen Analyse der Sozialen Frage und einem arbeitspolitischen Konzept geleitet waren, als vielmehr von dem Bestreben, den Arbeiterinnen und Arbeitern ein christliches und sittliches Familienleben zu ermöglichen.[22] Darauf zielten zum Beispiel Bemühungen ab, gesetzliche Einschränkungen für die Arbeit von (verheirateten) Frauen in den Fabriken zu erwirken. Immerhin brachten sich einige Zentrumsabgeordnete intensiv in die Beratungen einer 1878 von der Regierung eingebrachten Novelle der Gewerbeordnung ein und konnten erreichen, dass verpflichtende Fabrikinspektionen in dem Gesetz festgeschrieben wurden.

Am ehesten nahm zu jener Zeit Georg von Hertling die Rolle eines sozialpolitischen Sprechers der Zentrumsfraktion wahr. Seine Interpellation (parlamentarische Anfrage) vom 11. Dezember 1881 bezüglich der Arbeiterschutzgesetzgebung erregte einige Aufmerksamkeit. Anlass war die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17. November, in der Gesetzgebungsinitiativen der Regierung zur Einrichtung von Arbeiter-Sozialversicherungen gegen die Wechselfälle des Lebens angekündigt wurden. In seiner Interpellation fragte Hertling, ob die Regierung dieses Vorhaben nicht mit einem Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung verbinden wolle. Das führte zu einer lebhaften Debatte im Reichstag und dazu, dass sich Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) erstmals öffentlich gegen weitere arbeitspolitische Maßnahmen zum Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter aussprach.[23] Mehr oder Konkreteres als die hinlänglich bekannten alten Vorschläge des Zentrums hatte allerdings auch Hertling in dieser Debatte nicht vorgetragen.

Erst die Wahl Franz Hitzes in den Reichstag führte, so Ayaß, „innerhalb kurzer Zeit zu einem sichtbar neuen Kurs.“[24] Nachdem Hertling es „nochmals auf die alte Weise“[25] versucht und direkt am ersten Tag der neuen Sitzungsperiode einen allgemeinen Antrag zu einer Ausweitung des gesetzlichen Arbeiterschutzes eingebracht hatte, reagierte Bismarck mit Hohn und forderte das Zentrum auf, doch einmal konkrete Gesetzgebungsvorschläge zu unterbreiten. Als Hitze in dieser Situation seine Jungfernrede im Reichstag hielt, konnte er durch seine in den Jahren in Mönchengladbach und beim Verband Arbeiterwohl gesammelten Erfahrungen aus dem Vollen schöpfen. Er nannte eine ganze Reihe konkreter Beispiele, um den arbeitspolitischen Regelungsbedarf zu illustrieren. Und er nahm Bezug auf die Gewerbegesetzgebung in anderen Ländern: England, Schweiz, Österreich, USA. Für Ayaß markiert diese Rede die „Wende“[26] in der Sozialpolitik des Zentrums.

Gemeinsam mit seinem erfahrenen Fraktionskollegen Ernst Lieber (1838-1902), einem Juristen, erarbeitete Hitze einen Gesetzentwurf, der konkrete Vorschläge wie zum Beispiel eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit von Fabrikarbeitern auf elf Stunden und eine Ausweitung des erst 1878 eingeführten dreiwöchigen Mutterschutzes für Fabrikarbeiterinnen auf acht Wochen enthielt. Seit diesem Zeitpunkt legte die Zentrumsfraktion immer wieder Anträge zur Arbeiterschutzgesetzgebung vor, die Hitze in mühevoller Arbeit in Kommissionsitzungen und Absprachen mit Sozialpolitikern anderer Fraktionen voranzubringen suchte. Ayaß kommt deshalb zu dem Urteil: „Das Zentrum wurde mit Franz Hitze sozialpolitische Partei im engeren Sinne des Wortes.“[27]

Der Schwerpunkt von Hitzes sozialpolitischen Initiativen blieb die Arbeitspolitik. Dabei weitete sich sein Interesse von der Arbeiterschutzgesetzgebung im engeren Sinne zu anderen Fragen des Arbeitsrechts. Frühzeitig erkannte Hitze, dass die Soziale Frage ganz wesentlich in dem strukturellen Kräfteungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital begründet lag. Dieses Ungleichgewicht konnte nur durch eine kollektive Interessenwahrnehmung auf Seiten der Arbeiter ausgeglichen werden. Hitze stand deshalb auf der Seite der Gewerkschaftsbewegung, unterstützte die Idee des Kollektivarbeitsvertrages und befürwortete das Streikrecht.[28]

Für ihn war der Kollektivarbeitsvertrag nicht bloß ein Instrument zur Herstellung von Lohngerechtigkeit, sondern auch ein Beitrag zur Bekämpfung der marxistischen Klassenkampfideologie und damit zur Befriedung der Gesellschaft. „Ich glaube in der That, daß die Stärkung der Gewerkvereine am ersten dem Klassenkampf entgegenzuwirken geeignet ist“[29], sagte er 1898 im Reichstag. Er bewies damit offenkundig große Weitsicht. Denn völlig zu Recht hat Jürgen Habermas viel später einmal festgestellt: „Die rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonflikts ist zur Grundlage einer reformistischen Politik geworden, die eine sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts herbeigeführt hat.“[30]

Erst die damit beginnende ordnungspolitische Rahmung und sozialpolitische Abfederung des Kapitalismus haben den Liberalismus im großen, das 20. Jahrhundert beherrschenden Kampf der Systeme über den Kommunismus siegen lassen, denn, um noch einmal Habermas zu zitieren: „Unter diesen Verhältnissen hat sich der designierte Träger einer künftigen Revolution, das Proletariat, als Proletariat aufgelöst.“[31]

Gegner im eigenen Lager: der Gewerkschaftsstreit

Wegen seiner Überzeugungen befürwortete Hitze auch die Gründung christlicher Gewerkschaften und förderte diese gemeinsam mit dem Volksverein.  1894 war im Ruhrgebiet der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter als erste christliche Gewerkschaft ins Leben gerufen worden. Andere Gründungen erfolgten in den darauffolgenden Jahren. 1899 kam es in Mainz zum ersten reichsweiten Kongress der christlichen Gewerkschaften, der mit den „Mainzer Leitsätzen“ eine Art Grundsatzprogramm verabschiedete.[32] 1901 konstituierte sich in Krefeld der Gesamtverband der Christlichen Gewerkschaften Deutschlands, dem zunächst 23 Einzelgewerkschaften mit rund 84.000 Mitgliedern angehörten.

Die Entwicklung der christlichen Gewerkschaften wurde allerdings dadurch erheblich gehemmt, dass sie von integralistischen Kräften innerhalb der Kirche heftig bekämpft wurden, weil hier katholische und evangelische Arbeiter gemeinsam organisiert waren.[33] Hitze sah in der Interkonfessionalität kein Problem, weil es in der Gewerkschaftsarbeit um die kollektive Interessenwahrnehmung mit Blick auf wirtschaftliche Belange gehe und die Konfession, anders als in den Arbeitervereinen, keine Rolle spiele. Die Gegner forderten hingegen exklusive gewerkschaftliche Fachabteilungen in den katholischen Arbeitervereinen. Unangenehm wurde es, als sich die Bischofskonferenz – gegen eine Minderheit, die die Mönchengladbacher Richtung stützte – in der sogenannten „Fuldaer Pastorale“ für solche Fachabteilungen aussprach. Seitdem nahm die Auseinandersetzung hässliche Züge an. Hitze, Pieper und der Volksverein wurden von ihren Gegnern nach Kräften diskreditiert, und um ein Haar hätte die Schmutzkampagne Erfolg gehabt: Hitze erfuhr, dass seine Schriften in Rom geprüft wurden, zeitweise stand gar die Befürchtung im Raum, der Volksverein könne aufgelöst werden.[34] Hitze hat unter diesem Konflikt sehr gelitten. Er endete erst 1912, als Papst Pius X. in seiner Enzyklika Singulari quadam den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften seine Duldung aussprach.

Durch das Störfeuer der Integralisten war allerdings irreparabler Schaden entstanden. Die Chance war vertan, eine starke christliche Gewerkschaftsbewegung zu begründen, die auf Augenhöhe mit den sozialistischen Gewerkschaften hätte agieren können.

Fazit: Hitzes Programm der „sozialen Irenik“

Der Gewerkschaftsstreit hatte deutlich gemacht, dass Gegner der katholischen Sozialbewegung nicht nur in der Regierung, bei den Liberalen oder den Sozialisten zu finden waren. Eine große Gefahr lauerte auch im eigenen Lager, bei den Integralisten, die einen realitätsenthobenen Dualismus predigten.

Letztlich positionierte sich die Kirche auch in der Gewerkschaftsfrage nicht jenseits der Welt, sondern als „Kirche in der Welt“, wie es in der Überschrift der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt. Dieses Erbe gilt es zu bewahren. Reinhard Kardinal Marx mahnt: „Weder eine nostalgisch rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einem vorgegebenen, nicht weiter hinterfragbaren Wertehorizont noch eine defensiv sich zurückziehende ‚Arche-Noah-Mentalität‘ helfen […] weiter. Die Kirche muss ihre Stellung finden mitten in der Gesellschaft und deren Kommunikationsprozessen.“[35] Franz Hitze hat dieses Motto in seinem Leben geradezu idealtypisch verkörpert. Er, der tief erfüllt war vom Glauben und der Hoffnung auf das kommende Reich Gottes, hat genauso klar gesehen, dass die Kirche in der sozialen Verantwortung steht, das Hier und Jetzt positiv mitzugestalten.

„Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individualistisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen“, schreibt Papst Franziskus.[36] Franz Hitze hat durch sein Wirken die Welt zweifellos ein Stück weit besser gemacht. Er ist einer der Väter des modernen deutschen Sozialstaats und damit auch der Idee einer Sozialen Marktwirtschaft. Sozialpolitik hat er dabei nie als bloßes Instrument begriffen, um lediglich materielle Not zu lindern. Sein Blick und sein Anliegen gingen immer weiter. Er betrieb Gesellschaftspolitik. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollten nicht nur ihr Auskommen haben, sondern zu gleichberechtigten Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft und des liberalen Rechtstaates werden. Das war für ihn ein Gebot der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls. Möchte man seine Ziele und sein Programm auf einen Begriff bringen, dann passt die „soziale Irenik“ (von griech. εἰρήνη – Frieden) am besten – eine Formulierung von Alfred Müller-Armack, nicht durch Zufall der Namensgeber der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.

Anmerkungen

[1]      Zit. n. Manfred Hermanns, Sozialethik im Wandel der Zeit. Geschichte des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre in Münster, 1893-1997, Paderborn, 114 f.

[2]    Rudolf Morsey, Franz Hitze – Sozialreformer und Sozialpolitiker. Eine Einführung in Vita und Werk, in: Karl Gabriel/Hermann-Josef Große-Kracht (Hrsg.), Franz Hitze (1851-1921). Sozialpolitik und Sozialreform, Paderborn u.a. 2006, 15-36, hier: 18.

[3]    Siehe dazu und zum Folgenden Franz Müller, Franz Hitze und sein Werk, Hamburg 1928, 12 f.

[4]    Franz Hitze, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft, Paderborn 1880, VII.

[5]    Franz Hitze, Die Quintessenz der socialen Frage (1880), in: Gabriel/Große-Kracht (Hrsg.), a.a.O., 135-151, hier: 146.

[6]    Ebd., 146 f.

[7]    Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1991, 922.

[8]    Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Erster Band. Arbeitswelt und Bürgergeist, Sonderausg., München 1998, 439.

[9]    Franz Müller, Franz Hitze, a.a.O., 61.

[10]   Hubert Mockenhaupt, Franz Hitze (1851-1921), in: Rudolf Morsey (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts, 53-64, hier: 56.

[11]   Siehe dazu und zum Folgenden Wolfgang Löhr, Franz Brandts (1834-1914), in: Jürgen Aretz u.a. (Hrsg.), Zeitgeschichte in Lebensbilder. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 3, Mainz 1979, 91-105, hier: 93.

[12]   Vgl. Franz Müller, Franz Hitze, a.a.O., 54 f.

[13]   Ebd., 60.

[14]   Ebd., 61.

[15]   Franz Hitze, Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft. Nachwort zu der gleichnamigen Schrift, in: Gabriel/Große-Kracht (Hrsg.), a.a.O., 153-191, hier: 165.

[16]   Ebd.

[17]   August Pieper, Geschichte des Volksvereins für das katholische Deutschland, handschriftl. Manuskript in 5 Bänden, o.O. 1932, hier: Bd. 2, 385, zit. n. Horstwalter Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890-1918, Mainz 1979, 233.

[18]   Vgl. Gotthard Klein, Der Volksverein für das katholische Deutschland. Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn 1996, 64 f.

[19]   Vgl. Hubert Mockenhaupt, Franz Hitze (1851-1921), a.a.O., 60.

[20]   Ebd., 61.

[21]   Vgl. Rudolf Morsey, Franz Hitze – Sozialreformer und Sozialpolitiker, a.a.O., 21.

[22]   Vgl. dazu und zum Folgenden Wolfgang Ayaß, „Wir müssen anfangen, dann werden wir sehen…“. Franz Hitze, das Zentrum und die Sozialpolitik bis zum Ende der Bismarckära, in: Gabriel/Große-Kracht (Hrsg.), a.a.O., 37-56, hier: 41.

[23]   Vgl. ebd., 42.

[24]   Ebd., 43.

[25]   Ebd.

[26]   Ebd., 44.

[27]   Ebd., 47.

[28]   Vgl. Franz Hitze, Die Arbeiterfrage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung, 4. Aufl., Mönchengladbach 1905, 14.

[29]   Franz Hitze, Reichstagsrede zur Bedeutung der Gewerkvereine (1898), in: Gabriel/Große-Kracht (Hrsg.), a.a.O., 225-232, hier: 231.

[30]   Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 2, 510.

[31]   Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1971, 229.

[32]   Siehe dazu und zum Folgenden Michael Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1982, 122-138.

[33]   Siehe dazu und zum Folgenden Franz Josef Stegmann/Peter Langhorst, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, in: Grebing, Helga (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Ein Handbuch, Essen 2000, 596-862, hier: 694 f.

[34]   Vgl. Rudolf Morsey, Franz Hitze – Sozialreformer und Sozialpolitiker, a.a.O. 29.

[35]   Reinhard Kardinal Marx, Ökumenische Perspektiven kirchlicher Soziallehre, in: George Augustin/Markus Schulze (Hrsg.), Freude an Gott. Auf dem Weg zu einem lebendigen Glauben, Festschrift für Kurt Kardinal Koch., Freiburg i.Br. 2015, 599-618, hier: 606.

[36]   Vgl. Papst Franziskus, „Evangelii gaudium“, Nr. 183.

Die Verfasser

Dr. Arnd Küppers ist Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ).

Msgr. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der KSZ.