Lars Schäfers und Gabriel Lienhart | 07. März 2022

Ambivalenzen der Macht

Bericht zum Berliner Werkstattgespräch 2022

Wann und wo Menschen ihr Miteinander gemeinsam gestalten und in einer Gesellschaft zusammenleben, spielen Macht und ihre Verteilung eine tragende Rolle. Macht hat im Wesentlichen zwei Seiten: Sie kann positiv als Gestaltungspotenzial oder aber negativ als einengend, gewalttätig und missbräuchlich verstanden und angewandt werden. Die sozialethische Reflexion von Macht in ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit war das Anliegen des diesjährigen Berliner Werkstattgesprächs der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik (AG CSE) unter Beteiligung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ). Pandemiebedingt fand die Tagung am 21. und 22. Februar auch in diesem Jahr nicht in den Räumen der Katholischen Akademie Berlin, sondern digital via Zoom statt. Die Tagung stand unter dem Titel „Ambivalenzen der Macht. Theoretische Zugänge, gesellschaftliche Dynamiken, kirchliche Realitäten“. So ging es um sozialethische Machtkritik und normative Perspektiven auf das Phänomen der Macht sowie um die heterogene Wahrnehmung und die ambivalenten Wirkungen von Macht. Aus Aktualitätsgründen zog sich als roter Faden speziell der Fokus auf Macht und Machtmissbrauch in der Katholischen Kirche durch die Tagung. Die sozialethische Fachgemeinschaft beleuchtete die verschiedenen Dimensionen von Macht im Rahmen von insgesamt 17 Vorträgen in sieben Panels.

Machtkritik und Machtaffinität in Theologie und Sozialethik

Im ersten Panel behandelte Mariano Barbato (Passau/Münster) die Frage „Macht – ein blinder Fleck in Theologie und Kirche?“, Torsten Meireis (Berlin) referierte zum Thema „Öffentliche Theologie – eine neue Form machtaffiner protestantische Theologie?“ und Johannes Ludwig (Fribourg) sprach über „Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche“.

Mariano Barbato ging von der negativen Konnotation von Macht und Machtpolitik speziell in der katholischen Kirche aus. Das bestehende, polarisierende Framing der Macht von Papst, Bischöfen und Priestern auf der einen und der Machtlosigkeit der Frauen, Armen und Kleinen auf der anderen Seite müsse aufgebrochen werden. Daraus resultierende interne Machtfragen müssten gelöst werden, damit Kirche ihrer gesellschaftlichen Rolle neu entsprechen könne.

Torsten Meireis legt seinen Reflexionen über die Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur das Konzept der Öffentlichen Theologie (Public Theology) zugrunde. Der evangelische Theologe versteht Öffentliche Theologie dabei als Diskursparadigma, das bereits in unterschiedlichen Ländern weltweit zum Tragen gekommen sei. Kirche solle sich nach diesem Verständnis ihrer öffentlichen und im Sinne kritischer, frommer Selbstbegrenzung zudem prophetischen Rolle bewusst sein, ohne sich alarmistisch ein problematisches „Wächteramt“ in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zuzusprechen.

Die Phänomene immunisierter Macht und missbräuchlicher Diskursmechanismen in der katholischen Kirche waren Gegenstand des Vortrags von Johannes Ludwig. Wesentlich sei in der Kirche eine Sakralisierung der klerikalen Macht, die diese durch Zuweisung in Bereich des Heiligen unverfügbar mache. Reformen hinsichtlich einer kirchlichen Macht- und Gewaltenteilung können dadurch als Profanisierung abgelehnt werden. Es bedürfe daher eines Re-Framings von Macht als Ohnmacht, Dienst und Vollmacht, wenn Kontrolle und Teilung von Macht als institutionell notwendig und theologisch geboten ausgewiesen werden solle.

Geld und Macht

Die Vorträge des zweiten Panels handelten von „Macht im Wirtschafts- und Finanzsystem“ (Michael Schramm, Hohenheim) sowie vom „Diskussionsstand des Synodalen Wegs“ (Bernhard Edmunds, Sankt Georgen).

Schramm stellte die These auf, dass es die Macht des Geldes nur gebe, so lange ihm diese Macht zugeschrieben werde. Er begründet von daher die Notwendigkeit einer Demokratisierung des Finanzwesens, damit die Finanzmärkte für alle arbeiteten. Finanzmärkte haben demnach nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen moralischen Zweck. Zum Schluss erhob er drei Forderungen, die sich aus seiner pragmatischen Analyse ergeben:  Erstens sollten „Schattenbanken“ oder große Fondsgesellschaften wie BlackRock den gleichen Regulierungen wie Banken unterworfen werden. Zweitens solle die kritische Öffentlichkeit ein wachsames Auge auf gesellschaftliche Vermischungen von Geldmacht und politischer Macht haben. Drittens bedürfe es in einem radikalen Schritt einer „Zerschlagung“ solcher Schattenbanken.

Bernhard Emunds vertrat in seinem Vortrag zum Diskussionsstand des Synodalen Wegs, an dem er auch selbst beteiligt ist, die zentrale These, dass für die „wojtylistische Kirche“ eine Außen-Innen-Polarität charakteristisch ist. Die katholische Kirche setze sich demnach auf der einen Seite für Demokratie, Menschenrechte und den Abbau sozialer Ungleichheiten in der Welt ein. Auf der anderen Seite herrschten dagegen jedoch innerhalb der Kirche ein verschärfter Zentralismus, ein patriarchaler Klerikalismus und eine hierarchische Steuerung ohne gegenläufige Machtkontrolle vor. Emunds vertrat die Ansicht, dass die „wojtylistische Kirche“ in westlichen Ländern zu einem Ende komme, da einem immer kleiner werdenden Teil der Gläubigen die Außen-Innen-Polarität in Bezug auf Machtstrukturen noch einleuchte. Den Synodalen Weg versteht er als den Versuch der deutschen Kirche, Reformen einzuleiten, welche die Innenstrukturen den Außenpositionen annähern würden.

Politische Macht und Demokratie

Im dritten Panel referierten Bernhard Laux (Regensburg) über das Thema „Sozialwissenschaftliche Zugänge zu politischer Macht“, Markus Vogt (München) über das Thema „Krise der Demokratie“ und Hans-Joachim Höhn (Köln) über das Thema „Demokratisierung der Kirche“.

Bernard Laux stellte in seinem Vortrag die unterschiedlichen Machtvorstellungen von Niklas Luhmann (Macht als Drohung, die allerdings nicht ausgeführt werden muss, sofern sie funktioniert), Jürgen Habermas (kommunikative Macht in der Zivilgesellschaft, die sich in politischer Öffentlichkeit manifestiert) und Hannah Arendt (Macht als Handeln in Verbindung mit anderen) vor.

Markus Vogt stellte fest, dass seit etwa zehn Jahren weltweit autoritäre Systeme auf dem Vormarsch seien und die Demokratie somit in einer Krise sei. Politische Ethik stehe durch das Erstarken von „Verschwörungstheorien“ vor grundlegenden Herausforderungen, die ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit seien. Als eine Hauptbedrohung der Demokratie sah Vogt die rechte Identitätspolitik, die das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität bedienen möchte, indem sie Identitätsversprechen über kollektive Kategorien wie Nation oder ethnischer Zugehörigkeit gebe. Am Ende resümierte Vogt mit Verweis auf das gemeinsam mit der KSZ durchgeführte Projekt „Tolerance at the European frontiers – the dimension of Ukraine”, dass es angesichts der Zunahme von autoritärer Machtpolitik einer zivilgesellschaftlichen Verteidigung der offenen Gesellschaft durch die Haltung proaktiver Toleranz bedarf.

Hans-Joachim Höhn lenkte sodann wieder den Blick auf die katholische Kirche mit den spezifischen Problemen und Möglichkeiten einer Demokratisierung ihrer Strukturen. Dabei müsse ihm zufolge nach materialen, strukturellen und funktionalen Entsprechungen demokratischer Prinzipien und Verfahren im theologischen Selbstverständnis und in der Sozialgestalt der Kirche gesucht werden. Nach Höhn entscheide das, was zur theologischen Identität der katholischen Kirche gehört, darüber, an welchen Prinzipien sie ihre Sozialgestalt ausrichtet. Es zeige sich, dass es zwar durchaus ekklesiologische Analogien von demokratischen Kategorien gebe, diese jedoch nie spannungsfrei herangezogen werden können, wenn es darum geht, eine Demokratisierung der Kirche theologisch zu begründen.

Gender und Macht

Im vierten Panel folgten Vorträge von Maren Behrensen (Enschede) über die „Heteronormativität und Politik der Natur“, von Marianne Heimbach-Steins (Münster) zu dem Thema „Fürsorge – Genderethische Reflexionen“ und von Gunda Werner (Graz) zum Thema „Der Ausschluss der Frauen von den Ämtern“.

Maren Behrensen betonte zunächst, dass Gender seit Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Debatte etabliert sei, aber erst in den letzten Jahren zu einer „Chiffre“ geworden sei, mit der eigentlich disparate Themen zu einem Bedrohungsszenario verbunden werden. Dieses könne für eine entsprechende politische Mobilisierung genutzt werden. So werde Gender insbesondere von populistischen Parteien als globalistische Ideologie angesehen. Diese Lesart von Gender als Ideologie habe nach Behrensen auch katholische Wurzeln. In einem zweiten Schritt beschäftigte sie sich mit der Frage, welche Funktion die politische Mobilisierung von Gender in religiösen und säkularen Kontexten hat. So werde Politik mit der Natur betrieben, um hergebrachte soziale Machtstrukturen zu erhalten.

Marianne Heimbach-Steins stellte zunächst drei Diskursebenen vor, auf denen das Thema Fürsorge unter dem Fokus „Gender und Macht“ zu reflektieren sei. Erstens gehe es dabei um relationale, soziale und politische Praxen. Zweitens seien normative Erwartungen, die Fürsorge-Praxen determinieren, mit gesellschaftlichen Geschlechterrollen verknüpft. Drittens werde unter der Bezeichnung „Fürsorge-Ethik“ ein Ethikverständnis mit einem konstitutiv relationalen Subjektbegriff aufgerufen. Fürsorge-Praxen seien daher machtasymmetrische Praxen. Anschließend reflektierte sie Pflegebeziehungen und Pflegearbeitsverhältnisse als paradigmatische Sorgevollzüge unter der Rücksicht geschlechtsspezifischer Asymmetrie und einer mangelnden Geschlechtergerechtigkeit. Sie stellte abschließend die Frage nach einer genuin sozialethischen Fürsorge-Ethik.

Auch in diesem Panel wurde die Kirche ebenfalls noch einmal fokussiert, als Gunda Werner ihre theologisch begründete Kritik an den Argumenten gegen die Weihe von Frauen artikulierte. So werde von Gegnern der Frauenordination neben geschlechtsspezifischen Rollen- und Gefühlszuschreibungen nach wie vor eine ontologische Bestimmung des „Wesens“ der Frau als das fürsorgende Geschlecht vertreten, die sich mit dem kirchlichen Amt nicht vertragen würde. Dabei werde auch Maria ein biedermeierliches Ideal von Weiblichkeit und eine Hausfrauenrolle zugeschrieben. Nicht zuletzt werde bei der Begründung des Ausschlusses von Frauen vom Weiheamt eine insbesondere schöpfungstheologisch begründete Logik der Kirche einer Logik der Welt entgegengesetzt.

Macht – konstitutiv und repressiv (Workshops)

Im fünften Panel wurde innerhalb von parallelen Arbeitsgruppen über folgende Themen diskutiert: „Die Rede von der Wahrheit als Machtinstrument im politischen Diskurs“ (geleitet von Pavlos Leußler, Bonn) und „Pierre Rosanvallons Begriff der ‚Gegen-Demokratie‘“ (unter Leitung von Elisabeth Zschiedrich, Fribourg).

Pavlos Leußler zeigte auf, welche Rolle Wahrheit als Machtinstrument im politischen Diskurs spielt. Er unterschied das absolute Wahrheitsverständnis der Religion von dem politischen Verständnis von Wahrheit als Tatsachenwahrheit und argumentierte, dass absolute Wahrheiten im politischen Raum undenkbar seien, da sie durch ihren alleingültigen Charakter den demokratischen Diskurs ersticken würden. Dennoch treten laut Leußler Akteure mit Wahrheitsanspruch in der Politik auf; als Beispiele nannte der Vortragende das kirchliche Lehramt und Populisten. Leußler trug vor, dass sich in beiden Fällen ein Machtanspruch aufgrund einer vorgeblichen epistemischen Überlegenheit manifestiere. Dieser sei unzulässig, da die eigene politische Position damit zur objektiven Wahrheit erhöht werden würde, was für die gesellschaftliche Debatte ein massives Hindernis sei.

Elisabeth Zschiedrich stellte in ihrem Referat Pierre Rosanvallons Begriff der „Gegen-Demokratie“ vor, der die Misstrauensbekundungen gegenüber der Demokratie meint, die in demokratischen Gesellschaften zu finden sind. Statt diese „Gegen-Demokratie“ negativ zu bewerten, optiert Rosanvallon dafür, sie als notwendigen Bestandteil der demokratischen Gesellschaft zu verstehen, der als Gegenmacht zu einer stabilen Demokratie beiträgt. Damit ist die zentrale These Rosanvallons bereits zur Sprache gebracht, die besagt, dass die parlamentarisch-repräsentative Demokratie und die Gegen-Demokratie der indirekten Befugnisse zusammengedacht werden müssten, um die tatsächliche Dynamik gesellschaftlicher Machtaneignung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen.

Autorität – Amt – Macht

Im sechsten Panel sprachen Michael N. Ebertz (Freiburg) zum Thema „Amts- und Autoritätsverständnis als Grundlage von Macht“ und Karl Gabriel (Münster) über den Begriff „Expertokratie“.

Auf Basis des Grundtextes „Macht und Gewaltenteilung“ des Synodalen Weges thematisierte Ebertz in soziologischer Hinsicht das Verhältnis von Macht, Amt und Autorität in der Kirche. Der Synodentext intendiere eine Verschiebung der Machtbalance sowie die Verlagerung der Machtgewichte und eine Verringerung der Machtdifferentiale in der Kirche. Seit sich der Klerus auf innerkirchliche Macht beschränkt hatte, sei dessen Angewiesenheit auf Laien in der „weltlichen“ Politik gewachsen. Dieser Aufstieg des Laientums werde jedoch auch mit Gefahren für die als gottgegeben verstandene Verfassung der Kirche verbunden. Es gebe daher symbolische Kämpfe um die Frage nach Ausmaß und Grenzen der Demokratie in der Kirche.

Karl Gabriel führte zunächst an, dass bei gestiegenen Komplexitätsanforderungen an die Politik eine Transformation in Richtung Expertokratie unausweichlich sei. Entsprechende Tendenzen seien daran zu erkennen, dass sich das Zentrum politischer Entscheidungen von den gewählten Mandatsträgern in Richtung von Expertengremien verschiebe und in der Folge der Hinweis auf die Alternativlosigkeit zu einem tragenden Muster der Legitimation der Politik werde. Um das Spannungsverhältnis zwischen Wissensbasierung und Demokratie zu reduzieren, schlug der Referent drei Lösungsansätze vor. Erstens solle die Letztentscheidung bei der Politik liegen und der Expertendissens nicht verschleiert werden. Zweitens sei zu beachten, dass die Wissensbasierung politischer Entscheidungen eine politische Wissensbewertung voraussetze. Drittens müsse das Expertenwissen politisierbar bleiben. In Bezug auf die katholische Kirche sprach er davon, dass nicht eine Expertokratie der Theologen die Kirche gefährde, sondern vielmehr der Mangel an wissenschaftlicher Autonomie.

  1. Sexualisierte Gewalt

Das letzte Panel beinhaltete die Vorträge von Martin Wazlawik (Hannover) über das Thema „Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Einrichtungen“ und von Barbara Haslbeck (Regensburg) zum Thema „Wie Kirchenleute ihre Macht missbrauchen – Einblicke in die Erfahrungen von Betroffenen“.

Hinsichtlich sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Schulen legte Martin Wazlawik institutionelle, ideologische, naturalistisch-biologische und interaktionale Erklärungsmuster dar. Weitere begünstigende Faktoren seien u.a. eine Abgrenzung zur Außenwelt (räumlich
oder symbolisch), autoritär-hierarchische Machtverhältnisse, ein Primat der Einrichtung bzw. der Gesamtorganisation vor den ihr zugehörigen Personen sowie strukturelle und fachliche Defizite. Des Weiteren benannte er wesentliche Aspekte, die bei der Auseinandersetzung mit Opfern sowie bei der Aufarbeitung von sexuellem und Machtmissbrauch und dem Diskurs darüber zu beachten sind.

Im letzten Vortrag der Tagung ging Barbara Haslbeck anhand von Erfahrungsberichten von Opfern auf die Besonderheiten von Missbrauch durch kirchliches Personal anhand zweier Thesen ein: These 1: Gründe für den Missbrauch Minderjähriger müssen bei den Tätern nicht unbedingt sexuelle Bedürfnisse sein, oftmals liege vielmehr die Ausübung von Macht und Kontrolle entsprechenden Handlungen zugrunde. Macht werde dann nicht nur beim sexuellen Missbrauch, sondern auch in anderen Kontexten in inadäquater Weise ausgeübt. Die Machtfülle, die speziell einem geweihten Priester zur Verfügung steht, biete diesem Typus viele Handlungsfelder. In These 2 weist Haslbeck auf die Notwendigkeit eines geschlechtsspezifischen Blicks hin. Demnach müsse auch der Missbrauch an erwachsenen Frauen mehr Aufmerksamkeit erfahren. Zudem sollte auch auf Frauen als Täterinnen, etwa Oberinnen oder geistliche Begleiterinnen, geschaut werden. Nicht zuletzt gehe es bei sexualisierter Gewalt in der Kirche häufig auch um spirituellen Missbrauch. Die Vortragende resümierte, dass die Erfahrungen der Betroffenen auf zentrale Lernfelder hinweisen, damit Missbrauchsprävention besser gelingen kann.

In der abschließenden Tagungsauswertung und Diskussion stellte der Tagungsbeobachter Alexander Filipović (Wien) fest, dass das Begriffsfeld „Macht“ noch nicht ganz ausgeschöpft wurde und daher Begriffsklärungen weiterhin ausstünden, auch mit Blick auf die von der Sozialethik rezeptierten unterschiedlichen disziplinären Zugänge zum Thema. Zudem bemängelte er die Vernachlässigung des spezifisch sozialethischen Zugriffs zugunsten des während der Tagung dominierenden Kirchendiskurses. Offen blieb die Frage, ob in der Kirche legitime Macht anders denkbar sei als in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Filipović fasste die Problematik einer missbrauchsbegünstigenden Verhinderung von Selbstbestimmung, insbesondere in den Bereichen der Sexualität und Spiritualität, in die selbstkritische Rückfrage nach dem Verhältnis von Kirche und sozialethischer Fachgemeinschaft.

Die zweite Tagungsbeobachterin Tine Stein (Göttingen) blickte explizit als Politikwissenschaftlerin auf die Tagung und hätte im Gegensatz zu Filipović eine noch stärkere Konzentration auf das Thema Macht in Religion und Kirche erwartet. Deshalb und auch angesichts der Vielfalt an Fachdisziplinen, die es in den 17 Vorträgen im Sinne der Interdisziplinarität der Sozialethik zu berücksichtigen galt, stellte Stein die Frage nach dem Selbstverständnis des Fachs Christliche Sozialethik und seines theologischen Charakters. Damit sprach sie einen anhaltenden Diskurs über fachliche Identitäts- und Grundlegungsfragen an, der in der Sozialethik zuletzt auf der Jubiläumstagung des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften Münster intensiv weitergeführt wurde. Beim Werkstattgespräch vernahm Stein jedenfalls als Basso continuo, dass es verschiedene Positionen zu der Frage gebe, wie es mit der Kirche und ihren Herrschaftsformen weitergeht und was der Synodale Weg hierbei zu leisten vermag.

In der Abschlussdiskussion wurde das diesjährige Werkstattgespräch mehrfach als atypische und überraschende Tagung gewürdigt. Anerkennung für das insgesamt hohe Reflexionsniveau dieser Tagung kam dabei genauso zur Sprache, wie der gesellschaftliche Relevanzverlust der Kirche und damit auch der Christlichen Sozialethik offen diskutiert wurde.

Die Verfasser

Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.

Gabriel Lienhart ist Theologiestudent in Augsburg und Pratikant bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ).