Peter Kardinal Turkson und Peter Schallenberg | Dezember 2020

Fratelli tutti

Eine theologische Sozialethik der politischen Liebe

1. Fratelli tutti als spirituelle Vision im Kontext der katholischen Soziallehre

Die neue Enzyklika Fratelli tutti (Brüder sind wir alle)[1] von Papst Franziskus wurde am 3. Oktober 2020 auf dem Altar der Unterkirche von San Francesco in Assisi vom Papst symbolträchtig unterzeichnet und am nächsten Tag, einem Sonntag und gleichzeitig Festtag des hl. Franz von Assisi, in Rom veröffentlicht. Der Papst selbst will Fratelli tutti als „Sozialenzyklika“ verstanden wissen. Zugleich fällt sie aber aus der Reihe der Sozialenzykliken durch Stil und Anliegen heraus. Die Enzyklika macht es dem Leser zudem nicht leicht, unsystematisch und weitschweifig sind die Überlegungen. Es ist mühsam, die Goldkörner in dem aufgestapelten Heuhaufen der Enzyklika zu finden, aber es ist möglich. Unternimmt man den Versuch, dann macht man in der Tat bereichernde Entdeckungen. Allerdings: Um einen Text sozialethischer Systematik handelt es sich eher nicht, auch nicht um eine Sozialenzyklika gewohnter Präzision und mit logisch stringenter unangreifbarer Argumentation, sondern vielmehr um einen geistlichen Text, eine Art prophetische Vision zum christlichen Menschenbild, allerdings mit zum Teil überraschend daher kommenden sozialethischen und wirtschaftsethischen Anregungen, die am Ende zu einem vertieften und existenzielleren Begreifen des eigentlichen Kerns christlicher Soziallehre hinführen können: der Nächstenliebe nämlich.

Um sich dem sozialethischen Anliegen von Fratelli tutti anzunähern, ist es sinnvoll, den Text in Bezug zu den beiden Sozialenzykliken der letzten Jahre, nämlich Caritas in veritate (2009) von Papst Benedikt XVI. und Laudato si‘ (2015) von Papst Franziskus selbst, zu setzen. Im Hintergrund steht nämlich stets das entschiedene Plädoyer für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung. Das ist die Fortführung der Idee eines integralen Humanismus (und Personalismus), und zwar im Erbe von Jacques Maritain (1882-1973), der Schüler des französischen Philosophen Henri Bergson (1859-1941) und auch von dessen Hauptwerk „Die beiden Quellen der Moral und der Religion“ stark beeinflußt war, ein Buch, das nach Aussage von Ernst Cassirer, inspiriert ist von der Reintegration der moralischen Intuition in die Ethik: „Das Reich des Instinkts und seine ungebrochene Einheit und Sicherheit liegt hinter uns gleich einem verlorenen Paradies, das wir nicht zurückgewinnen können, aber die Sehnsucht nach ihm läßt sich nicht zum Schweigen bringen, und eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie scheint es zu sein, diese Sehnsucht zu deuten und ihr zur Aussage zu verhelfen.“[2] Jacques Maritain, ein Freund von Papst Paul VI., sucht den Anschluß einer neuthomistischen Metaphysik an die Lebensphilosophie von Henri Bergson[3] und zugleich mit seinem Werk „Integraler Humanismus“[4] in der Zwischenkriegszeit den Dialog mit der Moderne nach den überwiegend polemischen Auseinandersetzungen um den sogenannten „Modernismus“[5], und dies unter expliziter Bezugnahme auf einen spezifisch christlichen Humanismus[6] als Ansatzpunkt einer erneuerten Christenheit.

Die beiden genannten letzten Enzykliken kritisieren auf diesem Hintergrund offen und explizit eine reduktionistische, vom pragmatischen Utilitarismus und von bloß technischer Vernunft geprägte und allein auf materiellen Konsum ausgerichtete Weltwirtschaftsordnung und suchen einen Ausgleich von individuellem Eigennutz und Gemeinwohl. Das ist nicht neu für die katholische Soziallehre und seit der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum von Papst Leo XIII. aus dem Jahre 1891 der ständig wiederkehrende Refrain: Was nützt nicht nur dem selbstinteressierten Individuum, was nützt vielmehr allen menschlichen Personen in ihrem Recht auf ganzheitliche personale Entwicklung? Und verbunden damit seit Adam Smith (1723-1790) der bestrickende Gedanke: Lassen sich womöglich der Eigennutz und der Egoismus der Individuen durch institutionalisierte Gesetzgebung auf der politisch-ökonomischen Ebene so kanalisieren und transformieren, dass Umverteilung des Kapitals und der Vermögen und damit Partizipation und Inklusion auf sanfte und fast unbemerkte Weise gelingt? Das ist lange schon vorbereitet, insbesondere im Frühkapitalismus der franziskanischen Bewegung der Renaissance, und nunmehr die Geburtsstunde der modernen Moralökonomik. Und von hier bis zur „Unternehmenswirtschaft“ oder „Marktwirtschaft“ oder „freien Wirtschaft“, wie das Papst Johannes Paul II. in seiner großen Sozialenzyklika Centesimus annus 1991 nach dem Zusammenbruch des (ökonomischen) Kommunismus nennt, ist kein weiter Weg.[7] Die beiden letzten Sozialenzykliken des päpstlichen Lehramtes befassen sich daher mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, in der Tradition des vom italienischen Moralphilosophen Luigi Taparelli d`Azeglio SJ (1793-1862) 1849 geprägten Begriffs, und mit der daraus abgeleiteten Idee der sozialen Liebe, also eines Brückenbegriffs zwischen individueller privater Tugend der Barmherzigkeit und institutionalisiertem öffentlichen Recht und kritisieren aus dieser Sicht deutlich eine wenig egalitäre und stark konsumorientierte Weltgesellschaft, die von einer globalisierten Welthandelspolitik noch gefördert wird. Das Ziel der päpstlichen Kritik ist eine Orientierung auf das Gemeinwohl dagegenzusetzen, auf das Papst Franziskus in Fratelli tutti auch immer wieder zu sprechen kommt, modern verstanden (und im Anschluss an Jacques Maritain) als ganzheitliche menschliche Entwicklung jeder Person.[8]

Daher umkreist die Enzyklika Fratelli tutti, teilweise schweifend und mäandernd, das uralte christliche Thema der Liebe (und der Barmherzigkeit) und versucht, der eher anthropologisch-sozialphilosophisch um den Begriff der Gerechtigkeit herum zentrierten katholischen Soziallehre eine stärker genuin theologische Fundierung zu geben, zugespitzt zu der Frage: Was ist eigentlich typisch christlich an der Soziallehre, und zwar so christlich, daß es nicht auch von nichtchristlichen Denkern gedacht werden könnte, sondern eben nur von dem, der an Gott den Schöpfer und Erlöser glaubt?[9] Neu ist freilich auch dieser Ansatz in der katholischen Sozialverkündigung nicht. Schon die Sozialenzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. aus dem Jahre 1931 hält fest: „Einer großen Täuschung erliegen daher alle unbesonnenen Reformer, die einzig bedacht auf die Herstellung der Gerechtigkeit die Mitwirkung der Liebe hochnäsig ablehnen.“[10]

2. Hermeneutische Sozialethik aus der Spiritualität der Geschwisterlichkeit

Man wird dem Charakter dieses Textes dann am meisten gerecht, wenn man ihn von den in ihm versteckt formulierten interpretatorischen Prämissen her liest, die der Papst allerdings nicht an den Anfang des Textes stellt, sondern erstaunlicherweise vielmehr ans Ende. Im letzten der acht Kapitel der Enzyklika heißt es, dass „die verschiedenen Religionen einen wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft“[11] beitrügen. Genau um diese Geschwisterlichkeit geht es aber. Das visionäre Schlüsselwort zum ganzen Text des Papstes taucht relativ unvermittelt in der Mitte des Textes auf: Es geht um eine „Spiritualität der Geschwisterlichkeit“, die freilich nach fester Überzeugung des Papstes Hand in Hand gehen muss mit einer „weltweiten wirksameren Organisation zur Lösung der drängenden Probleme der Verlassenen, die in den ärmeren Ländern leiden und sterben.“[12] Aber der Weg geht eben, streng in augustinischer Konsequenz, vom Innen zum Außen, von der Spiritualität hin zu einer Institutionenethik, von der privaten Tugend der Barmherzigkeit hin zum öffentlichen Gesetz guter und gerechter Politik, nochmals in der Sicht des Augustinus zugespitzt: vom forum internum zum forum externum, vom inneren zum äußeren Marktplatz,[13] oder auch: vom Gewissen zur Gesetzgebung. Der Staat und die Wirtschaft leben – nach dem berühmten Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde – von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen und nicht garantieren können. Will heißen: Gesetze und politische Institutionen, also der Staat und alle seine sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen und Vorschriften, sind letztlich so gut wie die Menschen, die sie erstens ausdenken und zweitens am Leben und frei von Korruption erhalten. Anders gewendet und nach fester Überzeugung des päpstlichen Lehramtes im Feld der Sozialethik: Jeder Sozialstaat und jedes Wirtschaftsleben brauchen, eine Art von Spiritualität, eine Geisteshaltung also, die allem Handeln – „agere“ des moralischen Menschen im Gegensatz zum bloß herstellenden „facere“ des handwerklichen Menschen, des berühmt-berüchtigten „homo faber“ – zugrundeliegt. Für Fratelli tutti ist das die Geschwisterlichkeit, christlich gewendet: die schlichte Anerkennung der Glaubensoffenbarung, dass jeder Mensch ein unbedingt von Gott gewolltes Kind Gottes ist, dessen Seele sich im Medium von Leib und Zeit zur ganzheitlichen Entfaltung bringen darf. Oder anders gesagt: Das innerste Wesen der sozialen Ethik ist die Liebe. Johannes Paul II. hätte es vermutlich Personalismus genannt und Pius XI. Solidarismus. Und beide hätten gesagt: Der Mensch nach christlichem Verständnis ist Individuum und soziales Lebewesen. Person eben mit unverwechselbarem Angesicht und Charakter; angewiesen immer und ständig auf die anderen Personen und zugleich verantwortlich für sie; verantwortlich als Person für seine inneren Tugenden, die nach außen hindurchtönen (personare) sollen zur Verbesserung und Heiligung der Welt im Auftrag Gottes. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen auf Liebe angelegt, er lebt in Personalität und Solidarität. Das Christentum nennt das: Ebenbild Gottes. Des dreifaltigen Gottes, nebenbei bemerkt, also eines Gottes, der selbst in sich in der Beziehung der Liebe lebt.

Im besagten achten Kapitel von Fratelli tutti geht es um den Dienst der Religionen, auch und gerade des Christentums, an eben dieser Geschwisterlichkeit, die zuallererst eine gute, von Liebe durchtränkte, der menschlichen Person ganzheitlich entsprechende Ordnung ermöglicht. Papst Franziskus spricht davon, dabei Caritas in veritate zitierend, dass zwar die Vernunft für sich allein imstande ist, „die Gleichheit unter den Menschen zu begreifen und ein bürgerliches Zusammenleben herzustellen, aber es gelingt ihr nicht, Brüderlichkeit zu schaffen“[14]. Ein Problem nebenbei, dem sich ausführlich auch Jean Jacques Rousseau (1712-1778) in seinem „Zweiten Diskurs“ – nach dem „Ersten Diskurs“ über die Wissenschaften und die Künste“ 1750 – als Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon für den „Prix de morale“ von 1754 „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz zu rechtfertigen?“ ausführlich widmete[15], wenn auch, als genuines Kind der französischen Aufklärung, nicht mehr in christlicher Tradition.[16] Freiheit und Gleichheit gilt es miteinander in Einklang zu bringen, und eine solche fragile Art von Gerechtigkeit kann eine staatliche Ordnung nur formal, gleichsam im Medium einer negativen Freiheit, garantieren: Kein Staat der Welt kann das Recht auf Glück garantieren, allenfalls (und immerhin) die Möglichkeiten zur Glücksverfolgung bereitstellen[17], wie dies prototypisch in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit der Betonung des „pursuit of happiness“ zum Ausdruck kommt. Das heißt: Die staatliche, politisch-wirtschaftliche Ordnung kann verhindern, dass Menschen sich faktisch gegenseitig töten oder betrügen, sie kann aber eben nicht garantieren, dass Menschen einander auch nicht nur töten oder betrügen wollen, also einander motivational töten und betrügen. Das Reich des Begehrens ist dem Staat und der Wirtschaft und den Gesetzen verwehrt, die Gedanken und Motive sind frei.

Brüderlichkeit oder Geschwisterlichkeit aber können nach Fratelli tutti – hier greift der Papst wiederum auf die bedeutende Sozialenzyklika Johannes Pauls II. Centesimus annus zurück – nicht ohne transzendente Wahrheit erreicht werden, denn: „Wenn die transzendente Wahrheit nicht erkannt wird, dann triumphiert die Gewalt der Macht und jeder trachtet bis zum Äußersten von den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen.“[18] Hier genau, in dieser Welt der Innerlichkeit, der Intentionen und der Motivationen, liegt der Beitrag der Religion für ein wirklich gelingendes gemeinsames Leben von Menschen, das weit über ein höflich-tolerierendes Zusammenleben und lebendes Nebeneinander hinaus geht: „Solange wir die aufrichtige Gottessuche nicht mit unseren ideologischen und zweckmäßigen Interessen verdunkeln, hilft sie dabei, uns alle als Weggefährten zu begreifen, wirklich als Brüder und Schwestern.“[19]

Dieses Ringen um die transzendente Wahrheit, die das Gutsein der Menschen, das der gerechten Ordnung des Staates vorausliegt, allererst ermöglicht, dieses Ringen in der ehrlichen Offenheit der Gottsuche erläutert Papst Franziskus dann aber im sechsten Kapitel „Dialog und soziale Freundschaft“. Dort schreibt er: „Wenn etwas für das gute Funktionieren der Gesellschaft immer positiv ist, liegt es dann vielleicht nicht daran, dass dahinter eine vom Verstand erfassbare bleibende Wahrheit steht? […] Daraus leiten sich bestimmte Forderungen her, die im Dialog entdeckt werden können, auch wenn sie nicht im strengen Sinne vom Konsens geschaffen werden. […] Folglich ist es nicht notwendig, soziale Zweckmäßigkeit, Konsens und die Realität einer objektiven Wahrheit in Konkurrenz zueinander zu sehen. Diese drei Dinge können sich harmonisch miteinander verbinden, wenn die Menschen im Dialog wagen, einem Thema auf den Grund zu gehen.“[20]

So wird dann klar, welche interpretative Prämisse Fratelli tutti für ihre eigene Auslegung bereithält: Die Enzyklika möchte eigentlich selbst Dialog sein, Ausdruck menschlicher Brüderlichkeit und Gutheit, mit der Spiritualität der Geschwisterlichkeit ernst machen.  Fratelli tutti will nicht so sehr wie die klassischen Sozialenzykliken die Wahrheit verkünden und systematisch-argumentativ auslegen: Die Wahrheit steht in sich selbst und es gilt sie im liebevollen Gespräch zusammen zu entdecken, nicht sie dem Anderen um die Ohren zu hauen.[21] Fratelli tutti vertraut in einer Haltung der Liebe darauf, dass diese Liebe die Wahrheit schon freilegen wird, wenn man sich zuallererst auf sie einlässt.

Anders nochmals und platonisch gesagt: „Das Gute“ – auf das bei Platon die Liebe hinzielt[22] – ist unhintergehbar und unhinterfragbar. Es ist, wie auch der Begriff der Würde, der so markant an der Wurzel der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung in Deutschland steht,[23] deshalb auch nicht weiter begründbar und nicht nochmals in einem letzten „Warum“ hinterfragbar. Darum kann es auch nicht technisch – und sei es mit einer argumentativen Technik – hergestellt werden. Für Platon kann sich das Gute nur „dialektisch“, in der offenen, auf Wahrheit gerichteten Begegnung zweier Menschen zeigen, von sich selbst her in der gemeinsamen Entdeckung, denn das, worauf sich Wahrheit bezieht, was ihr vorausliegt und in sie eingeschrieben ist, ist bei Platon die transzendente „Idee des Guten“. Der so platonisch – und damit in verlängerter Linie auch augustinisch[24] – verstandene dialogische Ansatz des Papstes, der eine von der Spiritualität der Geschwisterlichkeit sich herleitende „Methode“ ist, kann daher mit Fug und Recht als eine hermeneutisch-theologische Sozialethik bezeichnet werden: hermeneutisch, weil sie die Wahrheiten der Soziallehre dialogisch-dialektisch[25] entdecken will; theologisch weil dieser Entdeckungszusammenhang letztlich auf die Aufdeckung des Geschenks der göttlichen Liebe zielt, das den Kern der menschlichen Person ausmacht, auf die alle staatliche Ordnung, die sozialethisch reflektiert wird, ausgerichtet sein muss.

So wird ein Schuh draus, mit Blick auf Stil und Inhalt der Enzyklika: Ihr unsystematischer Charakter ist „Methode“ und eine Konsequenz der in ihr entfalteten Spiritualität der Geschwisterlichkeit. Die Enzyklika will ein geschwisterliches Gespräch führen, das dabei hilft, das Gute, die Liebe, die Wahrheit und damit letztlich Gott in sich und anderen zu entdecken, und sie orientiert sich daher auch stilistisch an der assoziativen Art eines Gesprächs. Insofern können auch die immer wieder eingestreuten Bezüge zu Alltagsphänomenen als Ausdruck der Methode von Fratelli tutti gewertet werden. Aus den vielen starken Passagen des Papstes, insbesondere in der Interpretation der Gestalt des barmherzigen Samariters, lässt sich daher nicht so einfach eine „Lehre“ zu diesen Themenkomplexen herleiten, so wünschenswert das auch gerade für eine „Sozialenzyklika“ wäre. Vielmehr aber sollen diese Passagen eine emphatische Frage sein, um Probleme offenzulegen, ein Gespräch zu beginnen, in dem dann gemeinsam die Wahrheit allererst eröffnet wird und Gottes Wollen für den Menschen in Bezug auf diese Probleme verstanden werden kann.

3. Die hermeneutische Dimension der Sozialethik: Liebe und Gerechtigkeit

Aber hat Sozialethik und katholische Soziallehre eine solche hermeneutische Dimension? Wie kann diese verstanden und begründet werden? Vielleicht so: Wirtschaft und Politik werden aus der Perspektive christlichen Glaubens und katholischer Sozialethik von einer höheren, besser: umfassenden, nämlich metaphysischen Warte aus betrachtet. Der Mensch wird in platonischer Tradition als Person mit einem inneren Ziel (der Glückseligkeit in Gemeinschaft) und in jüdischer Tradition als erlösungsbedürftig durch Gott (der von ihm geschenkten Liebe) gedeutet und angeschaut. Der Mensch bedarf der Erlösung durch göttliche und menschliche Liebe und diese wird vorbereitet und ermöglicht durch eine äußere Ordnung von Politik und Ökonomie: „Person und Ordnung“ sind die zwei Grundpfeiler eines freiheitlichen Zusammenlebens und der daraus erwachsenden Wirtschaftsform der Sozialen Marktwirtschaft,[26] die nicht zufällig von aktiven Christen erdacht wurde und eng mit dem Ordoliberalismus verknüpft ist,[27] und die ganz explizit eine bestimmte Ethik der Person voraussetzt.[28] Politik und Ökonomie werden nach dem letzten, nicht bloß nach dem vorletzten Ziel befragt, nach dem umfassend Guten und Besten für das Leben eines jeden Menschen, und nicht nur nach dem hier und jetzt Richtigen in einer konkreten Situation. Denn, so die grundlegende Überzeugung der katholischen Soziallehre: Alle Systeme dieser Welt, darunter Politik und Ökonomie, dürfen in letzter Sicht nur einen einzigen Zweck haben: den Menschen als Selbstzweck, als Gottes Ebenbild mit unsterblicher Seele auf Gott und seine ewige Liebe vorzubereiten. In diesem Sinne schreibt christliches Denken dem Begriff der Gerechtigkeit, der in sozialethischen Überlegungen das zentrale Konzept darstellt, einen weiteren Sinnhorizont zu, bündeln sich in ihm doch bei näherer Betrachtung zwei verwandte Denklinien: Eine antik-griechische (platonische) Teleologie des Eros, des Begehrens und der Liebe als letztes Recht des Menschen, verbindet sich mit der biblischen Schöpfungslehre und der Idee göttlicher Liebe zum Menschen. So wird der Begriff der Gerechtigkeit in eine zielgerichtete, von absoluter Teleologie getragene Perspektive eingespannt und erfährt dadurch eine Ausrichtung auf ein jenseits der Gerechtigkeit liegendes und doch in ihr schon zu erahnendes Ziel, nämlich jene Liebe, von der die biblische Tradition seit dem Buch Genesis grundlegend spricht. Die im Schöpfungsbericht gegebene Darstellung der brüderlichen Beziehungen zwischen der menschlichen Person und der Schöpfung inspirierte den hl. Franziskus, auf den sich Papst Franziskus ausdrücklich bezieht, dazu, die Elemente der Schöpfung zu besingen. Mit der gemeinsamen Berufung, Gott zu loben, ist die ganze Schöpfung geistlich und funktionell miteinander verbunden. Die Brüderlichkeit ist gleichsam ein ontologischer Klebstoff, der alles Geschaffene in einem Band der Fürsorge hält und auf menschlicher Seite eine Kultur der Fürsorge und der Liebe nach sich zieht.

Und in der Tat führt ein fast unsichtbarer roter Faden von Platos Begriff des Begehrens hin zum Begriff der Liebe bei Augustinus und dem Franziskaner Bonaventura:[29] Lieben und Geliebt-Werden ist das letzte Ziel jeder menschlichen Person und ihres guten Lebens, der zoé, weit über die gesättigte Zufriedenheit eines langen Überlebens, des bios, hinausgehend. Der Zweck der Natur des Menschen ist es, begehrt zu werden und zu begehren, das allein macht ihn glücklich, privat wie auch öffentlich, weswegen aus katholischer Sicht geradezu von einer „öffentlichen Glückseligkeit“[30] als Ziel von Politik und Wirtschaft gesprochen werden kann. Dieser Art zu denken geht es nie nur ganz allgemein um die abstrakte Größe „Menschheit“ (auch wenn „Adam“ als prototypische Persönlichkeit den Menschen an sich, kantianisch gesprochen: die Menschheit idealiter meint), sondern sehr konkret um den einzelnen Menschen, die konkrete Person. Den auf Liebe hin geweiteten Sinnhorizont der Gerechtigkeit gilt es also in den je konkreten Kontexten menschlichen Lebens in einer hermeneutischen Praxis aufzuschließen. Hierin liegt die hermeneutische Dimension christlicher Sozialethik, die Papst Franziskus in Fratelli tutti nicht neu erfindet, sondern ihr nur ein deutlicheres Gewicht verleiht.

Hilfreich zum Verständnis des Ineinanders einer Gerechtigkeitsordnung und einer Liebesordnung kann dabei sein, die soziale Vision des Papstes vor dem Hintergrund des von Augustinus entwickelten Verhältnisses von staatlicher Ordnung und ordo amoris als einen augustinischen Liberalismus zu interpretieren. Dem kann man sich von Fratelli tutti her am besten über zwei Seiten annähern.

4. Der barmherzige Samariter als Kritik am technokratischen Paradigma

Der Schlüsseltext der gesamten Enzyklika ist das neutestamentliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Lukasevangelium, das wie ein musikalisches Leitmotiv die gesamte Enzyklika durchzieht und immer wieder anklingt. Mit der Tradition der Kirchenväter bis hin zu Benedikt XVI. wird das Gleichnis von Papst Franziskus gelesen als Antwort auf die alttestamentliche Erzählung von Kain und Abel, die unmittelbar im Buch Genesis auf die Erzählung von der Erschaffung des Menschen und von seinem Sündenfall folgt[31] und sozusagen die traumatische Urerfahrung der Menschheit bis hin zu Auschwitz und Srebenica widerspiegelt: dass nämlich der Mensch in der Lage ist, anders als beispielsweise der Wolf, dem Mitmenschen, ja dem eigenen Bruder ungehemmt an die Gurgel und ans Lebensrecht zu gehen, ihn zu töten, zu berauben, zu belügen und zu vergewaltigen. Weswegen die vier Grundgebote „Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen und nicht ehebrechen“ nicht nur den Kern des jüdischen Dekaloges und der jesuanischen Bergpredigt bilden, sondern überhaupt das Wesen der Goldenen Regel in allen Hochkulturen ausmachen: „Handle so, wie auch du behandelt werden möchtest!“

Von da bis zur Liebe ist freilich noch ein langer und steiniger Weg, den die Enzyklika manchmal vielleicht etwas zu blauäugig abzukürzen scheint. Denn immerhin liebt ja auch der Christ die Mitmenschen (über den engeren Freundeskreis hinaus) nicht wegen deren subjektiv empfundenen Liebenswürdigkeit, sondern wegen der von Gott objektiv verliehenen Liebenswürdigkeit. Einfacher und weniger geschraubt ausgedrückt: Wir lieben die Mitmenschen nicht wie unsere Freunde, sondern wie unsere Geschwister, die wir lieben, weil die Eltern sie lieben mit der gleichen Liebe, wie sie uns lieben. Auch wenn man es nicht so zuspitzen muss wie George Bernard Shaw: „Freunde sind Gottes Entschuldigung für Verwandte.“[32] Gott liebt jeden Menschen in unermesslicher Weise als sein Ebenbild, und die, die Gott lieben, müssen daher logisch und konsequent auch die lieben, die er liebt. Daraus freilich erwächst sofort die Frage, der die Enzyklika an dieser Stelle elegant ausweicht: Ist eine universale Geschwisterlichkeit und Nächstenliebe eigentlich letztlich ohne Gott und den Glauben an seine Liebe möglich? Das Christentum sagt deutlich: Nein, und es leitet daraus die Notwendigkeit der Mission ab. Ungleich sanfter formuliert die Enzyklika: „Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherziger Samariter zu sein oder gleichgültiger Passant…“[33]. Freilich wäre an dieser Stelle ökonomische Expertise wünschenswert gewesen. So wäre es etwa leicht möglich, auch und gerade im Rückgriff auf genuin christliche Vorläufer der modernen Moralökonomik wie den franziskanischen Frühkapitalismus und die Schule von Salamanca, vom Gleichnis her konkrete sozialethische und wirtschaftsethische Fragen zu entwickeln. Erstens: Woher hatte der Samariter den zur ersten Hilfe nötigen Esel? Mögliche Antwort: Er hatte gearbeitet und Arbeit gefunden und Geld verdient; das nennt man funktionierende Marktwirtschaft. Zweitens: Wo kam das zur effektiven Hilfe nötige Wirtshaus her? Mögliche Antwort: Es fiel nicht vom Himmel, sondern war durch die Arbeit und Leistung des Wirtes als Unternehmer entstanden; das nennt man funktionierende Unternehmenswirtschaft. Drittens: Was hätte der Samariter eigentlich gemacht, wenn der im Straßengraben Liegende nicht sich lammfromm auf Esel und ins Wirtshaus hätte bringen lassen, sondern auf angebotene Hilfe mit Apathie oder gar mit Aggression reagiert hätte? Mögliche Antwort: Er hätte ihn zur Resozialisierung durch sanfte Anreize und die Aussicht auf berufliche Verbesserung gezogen; das nennt man lebenslanges Lernen und berufliche Fortbildung. Viertens schließlich: Was kann der Samariter tun, um in der Zukunft die Straßengräben frei von ausgeräuberten Menschen zu halten? Mögliche Antwort: Er gründet einen starken Staat zur Abwehr von Räubern und zur Verhinderung von sozialem Elend; das nennt man demokratischen Rechtsstaat. Es geht aber der Enzyklika eben nicht um die konkreten Ordnungs- und Gerechtigkeitsfragen, ohne dass damit gesagt wäre, diese seien vernachlässigbar, sondern eben um eine tiefer liegende Ordnung der Liebe.

Papst Franziskus bezieht seine Deutung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, dabei auf einen großen Denker der hermeneutischen Philosophie, nämlich Paul Ricoeur (1913-2005), der, ausgehend von einer eigenen Deutung des Gleichnisses (und auf den entsprechenden Text bezieht sich die Enzyklika) den anderen Menschen als Sozius und als Nächster unterscheidet. Sozius ist der Andere in Bezug auf sozio-politische Kategorien, Nächster ist „die persönliche Art und Weise […], mit dem ich dem anderen über jede soziale Vermittlung hinaus begegne“[34]. Der andere ist immer beides zugleich; daraus ergibt sich bei Ricoeur eine dreifache Kritik: an der „Verdinglichung, die sich in allen Organisationsformen nachweisen lässt“[35], der „Anonymität […] der Leidenschaft des abstrakten Funktionierens“[36] und den „Machtleidenschaften“[37]. Eine nachhaltige Korrektur dieser Fehlentwicklungen der zunächst notwendigen und von Ricoeur keinesfalls vollständig diskreditierten sozio-politischen Ordnung könne nur vom Blick auf den Menschen als Nächster kommen, von einer „Theologie der Barmherzigkeit“ her, wie Ricoeur sagt. Das in Fratelli tutti entwickelte Verständnis des Gleichnisses des barmherzigen Samariters kann genauso aufgefasst werden und wirft Licht auf den immer wieder im Text auftauchenden und wechselnd benannten Erbfeind des christlichen Menschenbildes: Das „technokratische Paradigma“[38] soll vehement kritisiert werden, mithin ein individualistischer und liberalistischer Konsumismus und Materialismus. Auch das ist seit der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum bis heute nicht neu und auch nicht mehr besonders originell, und muss doch immer wieder unterstrichen werden: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, schon gar nicht vom selbstgenügsamen Konsum, sondern von der Erfahrung geschenkter und empfangener Liebe. Diese aber kann ein unregulierter Markt neoliberaler Denkungsart überhaupt nicht zum Ziel haben und auch eine Soziale Marktwirtschaft nur ansatzweise in den Blick nehmen, aber doch zumindest beginnen. Denn wie schon Augustinus in seiner Auslegung zur Erzählung von Kain und Abel in seinem Hauptwerk De civitate Dei scharfsichtig bemerkte: Der Staat schützt den Abel zwar vor dem äußeren Totschlag des Kain, nicht aber vor dessen inneren Hass. Der Staat regelt den äußeren Marktplatz, das forum externum, nicht aber den inneren Marktplatz, das forum internum. Denn das Glück des Abel bestünde ja nicht darin, von Kain nicht erschlagen, sondern von ihm geliebt zu werden. Das aber können Staat und Wirtschaft nur erhoffen, nicht erzwingen. Und genau deswegen braucht es das Christentum und die Kirche und Enzykliken wie diese. Und genau dieser Zusammenhang kann trefflich mit Augustinus systematisiert werden.

5. Papst Franziskus’ Sozialethik als augustinischer Liberalismus?

Die Normativität der Liebe als politische Tugend beruht bei Augustinus auf drei Grundideen: der Notwendigkeit der menschlichen Existenz („volo ut sis“); die Anerkennung aller Personen als intersubjektive, miteinander verflochtene Wesen in Beziehung zu Gott und den Mitgeschöpfen; schließlich die Fähigkeit zum Neuanfang, also die Fähigkeit zu Verzeihung und Vergebung,  die in Fratelli tutti auch immer wieder reflektiert wird.[39]

Diese drei Grundideen sind die Voraussetzungen für den Aufbau einer augustinischen Ethik der demokratischen Staatsbürgerschaft, die ansatzweise bereits in einigen Verfassungen umgesetzt zu sein scheint, wie etwa in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes oder im berühmten Einleitungssatz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit dem Hinweis auf die grundlegende Freiheit und das Recht jeder Person, nach umfassendem Glück zu streben. Nur so wird anerkannt, dass irdische Politik nicht die tiefsten Sehnsüchte einer menschlichen Person oder Gemeinschaft erfüllen kann. Grundrechte und Demokratie sind eminent wichtig, auch wenn sie nicht die Erfüllung der Liebe sind und daher im Vorhof der eigentlichen Sehnsüchte und letzten Rechte des Menschen verbleiben. Der Weg der ständigen und stetigen Entwicklung jeder menschlichen Person und ihrer Talente wird erst in der Ewigkeit zur Vollkommenheit vollendet.

Zur Interpretation von Fratelli tutti bietet Augustinus und seine Rezeption des platonischen eros mit seiner Idee des ordo amoris, einer Ordnung der Liebe also, wie sie auch die Enzyklika anzuzielen scheint, einen vielversprechenden Ansatz: Die individuelle Freiheit des Einzelnen und die Verantwortung für das Gemeinwohl müssen durch die Kombination von tugendhaften, an der Liebe orientierten Individuen und dem politischen Handeln gleichgesinnter Bürger in einen engen Zusammenhang gestellt werden. In Laudato si‘ sprach Papst Franziskus im Blick auf die ökologische Krise ausdrücklich von der Notwendigkeit, Liebe zur Grundlage zivilen und politischen Handelns zu machen. Der betreffende Abschnitt wird in Fratelli tutti zitiert: „Jeder von der Soziallehre der Kirche inspirierte Einsatz ‚geht aus der Liebe hervor.‘“[40] Der hier ausgesprochene Gedanke kann sehr sinnvoll mit Augustinus’ Überlegungen zum ordo amoris in Bezug gesetzt werden. Der mit ordo amoris bezeichnete innere Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung für das Gemeinwohl aus Liebe kann auch als augustinischer Liberalismus bezeichnet werden und interpretiert den älteren Begriff des integralen Humanismus wie auch den ebenfalls älteren Begriff eines Ordoliberalismus. Dies verbindet sich konsequenterweise mit einer franziskanischen Theologie der Freiheit, die sich gerade bei ihrem bedeutendsten Vertreter Bonaventura und seiner Idee eines lebenslangen Pilgerweges der menschlichen Entwicklung hin zur vollkommenen Liebe[41] an augustinisches Denken anlehnt. Die engen Bezüge, die Papst Franziskus auch in Fratelli tutti immer wieder[42] zum heiligen Franziskus herausstellt, machen ebenfalls klar, dass die Enzyklika, wie auch schon Laudato si‘, deutlich den Geist augustinischer Theologie und franziskanischer Spiritualität atmet.

Ein augustinischer Liberalismus vertritt die Auffassung, dass der Begriff der Liebe als normatives Prinzip für moralisch gutes politisches Handeln von Individuen innerhalb eines Rechtsstaates gelten kann. Liebe wird dabei im Sinne von amor als naturhaftes Streben jedes Menschen (aufgrund seiner Wesensnatur als Mensch) nach Freundschaft und Begehren und (modern und soziologischer gesprochen) Anerkennung[43] verstanden. Im Sinne von caritas wird dann darüber hinaus das tugendhafte, höhere Streben des von Gott ergriffenen Menschen (aufgrund der in den Sakramenten empfangenen Gnade) nach selbstloser und hingebender Liebe in den Blick genommen. In dieser Sicht bildet Liebe den Horizont und das Ziel der Gerechtigkeit, die vor Unrecht, nicht aber vor Lieblosigkeit zu schützen vermag. Liebe (als unbedingte begehrende Bejahung der Existenz) ist die primäre Eigenschaft Gottes, der den Menschen als sein Ebenbild mit eben jener primären Eigenschaft begehrender und verantworteter Liebe ausstattet. Dahinter steht natürlich eine deutliche Vision von politischer Beteiligung als Ausdruck von christlicher Jüngerschaft.[44] Das Ziel der Person aus augustinischer Sicht ist die fortschreitende Heilung des menschlichen Selbst: Alles geschieht, damit die Seele geheilt werde vom Zwang zum Bösen, befreit werde zur Fülle hingebender Liebe als unbedingtes Ja zur Existenz einer jeden anderen menschlichen Person.[45] Eine gerechte Gesellschaft wird die Voraussetzungen bereithalten, um die Fähigkeiten jeder menschlichen Seele zum Guten und zur Liebe hin nachhaltig zu entwickeln.

Von Augustinus bis Hobbes war der selbstsüchtige Mensch der Erbsünde ein Problem, das im Diesseits entweder nach autoritärer Herrschaft oder nach Gewaltenteilung oder nach Kanalisierung durch soziale Interaktion in einer „commercial society“ im Modus des Austausches von Gütern und Diensten verlangte.[46] Dies war zunächst hilfreich, sieht aber den Menschen letztlich reduziert auf eine Form sekundärer Sozialisation der bedürfnisorientierten Konsumgesellschaft. Genau dagegen steht eben ein integraler Humanismus und eine ganzheitliche Sicht menschlicher Entwicklung hin zu immateriellem Glück.

Anmerkungen

[1]   Papa Francesco, Fratelli tutti. Sulla fraternità e l`amicizia sociale. Introduzione di Bruno Forte, Brescia 2020.

[2]      Ernst Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, in: Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Aus dem Französischen übersetzt von Eugen Lerch, Hamburg (Felix Meiner) 2019, VII-XXXVII, hier XV.

[3]    Vgl. Jacques Maritain, De Bergson à Thomas d`Aquin. Essais de Métaphysique et de la Morale, Paris 1947.

[4]    Ders., Humanisme intégral. Problèmes temporels et spirituels d`une nouvelle chrétienté, Paris 1936; deutsch: Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950.

[5]    Vgl. Otto Weiß, Aufklärung, Modernismus, Postmoderne. Das Ringen der Theologie um eine zeitgemäße Glaubensverantwortung, Regensburg (Pustet) 2017.

[6]   Vgl. Peter Schallenberg, Auf dem Weg zu einem christlichen Humanismus? Die Enzyklika „Caritas in veritate“ aus ökumenisch-sozialethischer Sicht, in: Catholica 65 (2011)136-143.

[7]   Enzyklika Centesimus annus, Nr. 42.

[8]   Vgl. Peter Kardinal Turkson, Integraler Humanismus und Wirtschaftsökologie. Überlegungen aus Anlass der Amazonas-Synode (= Kirche und Gesellschaft Nr. 463), Köln 2019.

[9]    Vgl. Peter Schallenberg, Zum Verhältnis von Moraltheologie und christlicher Sozialethik, in: Markus Vogt (Hg.), Theologie der Sozialethik (= QD 255), Freiburg/Br. (Herder) 2013, 189-210.

[10]   Enzyklika Quadragesimo anno Nr. 137.

[11]  Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 271.

[12]  Ebd., Nr. 165.

[13]   Vgl. Peter Schallenberg, Innerer und äußerer Marktplatz. Zum Zusammenhang von Moraltheologie und christlicher Sozialethik, in: Arnd Küppers / Peter Schallenberg (Hgg.), Interdisziplinarität der Christlichen Sozialethik. FS zum 50-jährigen Jubiläum der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach (= Christliche Sozialethik im Diskurs 4), Paderborn (Schöningh) 2013, 363-380.

[14]  Enzyklika Caritas in veritate, Nr. 19: Fratelli tutti, Nr. 272.

[15]   Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l´origine et les fondements de l´inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755.

[16]   Vgl. Heinrich Meyer, Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes, in: Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l`inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn (Schöningh) 1984, XXI-LXXVII, hier XXXIV: „Rousseau läßt die biblischen Tatsachen nicht nur beiseite, sondern er begreift und stellt die Entwicklung der menschlichen Art in einer Weise dar, die mit den biblischen Tatsachen unvereinbar ist. Der Verfasser des Discours über die Ungleichheit, der sich einen Platon und einen Xenokrates zu Richtern wählt, ist eines ganz gewiß nicht: ein Autor, der den Schriften des Moses´ den Glauben schenkt, den ihnen jeder christliche Philosoph schuldet.“

[17]   Vgl. Peter Schallenberg, Ist Gleichheit Glück? Ungleichheit und Gerechtigkeit aus moraltheologischer Sicht, in: Markus Vogt / Peter Schallenberg (Hgg.), Soziale Ungleichheiten. Von der empirischen Analyse zur gerechtigkeitsethischen Reflexion (= Christliche Sozialethik im Diskurs 9), Paderborn 2017, 137-150.

[18] Enzyklika Centesimus annus, Nr. 44: Fratelli tutti, Nr. 273.

[19]  Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 274.

[20]  Ebd., Nr. 212.

[21]  Ebd., Nr. 4.

[22]  Vgl. Karl Jaspers, Die großen Philosophen, München 2018³, 286f.

[23]  Vgl. Peter Schallenberg, Grundgesetz und Marktwirtschaft (= Kirche und Gesellschaft Nr. 461), Köln 2019.

[24]  Zum Zusammenhang platonischer Dialektik und augustinischen Denkens vgl. Erich Przywara, Augustinisch. Ur-Haltung des Geistes, Freiburg 2000², 30f..

[25]  Zum Zusammenhang von Dialogik und Dialektik vgl. Erich Przywara, Analogia Entis. Metaphysik. Ur-Struktur und All-Rhythmus, Freiburg 1996³, 101f..

[26]  Vgl. sehr erhellend Matthias Zimmer, Person und Ordnung. Einführung in die Soziale Marktwirtschaft, Freiburg/Br. 2020.

[27]  Vgl. Thomas Biebricher / Ralf Prak, Soziale Marktwirtschaft und Ordoliberalismus zur Einführung, Hamburg 2020.

[28]  Vgl. Peter Schallenberg, Ethik der Sozialen Marktwirtschaft (= Christliche Sozialethik im Diskurs 11), Paderborn 2019.

[29]  Vgl. Adriaan Peperzak, Das Begehren: Platon – Augustinus – Bonaventura, in: Tobias Schlicht (Hg.), Zweck und Natur. Historische und systematische Untersuchungen zur Teleologie, München 2011, 37-52.

[30]  Vgl. Luigino Bruni, La pubblica felicità. Economia civile e political economy a confronto, Milano 2018.

[31]  Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 57.

[32]  Zitiert nach Rafik Schami, Auf die Freundschaft. Anthologie mit Texten aus der Weltliteratur, Zürich 2019.

[33]  Enzyklika Fratelli tutti,  Nr. 69.

[34]  Paul Ricoeur, Der Sozius und der Nächste, in: Ders., Geschichte und Wahrheit, München 1974, 113.

[35]  Ebd., 120.

[36]  Ebd.

[37]  Ebd.

[38]  Enzyklika Fratelli tutti, Nr. 165.

[39]  Ebd., Nr. 241-243.

[40]  Ebd., Nr. 181 mit Zitat aus Laudato si‘, Nr. 231.

[41]  Vgl. Bonaventura, Pilgerbuch der Seele zu Gott (Itinerarium mentis in Deum), München 1961.

[42]  Vgl. Enzyklika Fratelli tutti, Nr.1-4.

[43]  Vgl. Axel Honneth, Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018.

[44]  Vgl. Jonathan Tran, Assessing the Augustinian Democrats, in: Journal of Religious Ethics 46 (2018) 521-547.

[45]  Augustinus, De vera religione III 4, 15: „Ut anima sanetur… “

[46]  Vgl. Georg von Wallwitz, Mr. Smith und das Paradies. Die Erfindung des Wohlstands, Berlin 2013.

Die Verfasser

Peter Kardinal Turkson ist in der Römischen Kurie Präfekt des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen.

Msgr. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ).